„Alpenglühen“ von Peter Turrini am Schlosspark
Theater Berlin, Regie Alfred Kirchner
Liebeszuckungen
in der Nähe des Gipfels
In gepflegter Bühnensprache bringen
Hannelore Hoger und Harald Juhnke das Stück über die Runden. Die Rede ist von Peter
Turrinis „Alpenglühen", einem Werk von der Stange, das Alfred Kirchner in
deutscher Erstaufführung am Berliner Schloßpark Theater inszenierte.
Nun ist Konfektion nicht gleich
Konfektion. Auch nicht auf dem Theater. Der seit seinem 15. Lebensjahr stückeschreibende
Turrini versteht, seine Kreationen marktfähig zu machen und dennoch seine
plebejische Sicht auf die Welt nicht zu verleugnen. Was heutzutage, da die
Linke überall hinweggefegt wird, schon was heißen will.
Turrinis Einfall: Ein Blinder haust seit 40
Jahren in einer Alpenhütte, wo er dem Fremdenverein für Touristen die
unberührte Natur liefert, nämlich Kuckuck-Rufe und Bussard-Geschrei auf Bestellung.
Natürlich ist der Mann einsam. Zwar nimmt er per Radio - mit Unterbrechung, wenn
die Batterien leer sind - am Weltenlauf teil, aber seine Vorstellungskraft läßt
nach. Er kann sich zu den Nachrichten keine Bilder mehr erphantasieren. Die
Einheit Deutschlands beispielsweise kriegt er einfach nicht in die Vorstellung,
so schnuppe ihm das Schicksal des Sozialismus auch ist. Schließlich ist er der Sohn
einer reichen Grazer Familie, die ihn zum Journalistik-Studium nach Amerika geschickt
hatte. Wo er als Auserwählter einem Atombomben-Versuch beiwohnen durfte, aber
eine Idee zu neugierig war, so daß er erblindete. Schicksal eben. Nun genügt
ihm der naive Bauernsohn nicht mehr, der ihm auf seine Alpen-Einsiedelei Nahrung
und Kunde bringt. Also bittet er den Blindenverein um eine Gabe, nämlich ein
Weib.
Drunten im Tal im Vereinsbüro gerät
eine einsame, bigott religiös erzogene 50jährige Sekretärin an des Blinden
Wunsch und beschließt, sich dem Herrn als Prostituierte anzubieten. (Wozu dies
nötig ist, weiß allein der Autor). Immerhin kann er mit Präservativen
hantieren lassen, was im Publikum immer kreischende Sympathisanten findet. Der Blinde
hat freilich in besagter Richtung keinen Bedarf. Er braucht etwas fürs Herz.
Also stellt ihm Jasmine eine Schauspielerin vor, die den Julia-Text
Shakespeares parat hat. So kommt man sich näher, ohne sich je zu erreichen. Fatale
Liebeszuckungen nahe dem Gipfel.
Und in der Natur, in den Alpen, ist es doch eigentlich so schön. Bühnenbildner Vincent Callara jedenfalls erweckt die vollkommene Illusion, daß sich gleich hinter dem Schloßpark Theater bizarre Berge türmen, die Sonne wandert, der Regen schüttet und nächtens die Sterne funkeln. Klar, majestätisch, erhaben - die Natur.
Die Menschen in der Hütte spielen sich
verklemmt Unnatur vor. Sie brauchen die Verstellung. Er ist verhinderter Journalist,
gewesener Nazi, gefeuerter Theaterdirektor; sie laienhafte Prostituierte, unbefriedigte
Sekretärin, stellungslose Schauspielerin. Und beide sind glücklich, wenn sie anmutig
rührselig Shakespeare zitieren (übrigens ziemlich ausführlich. Tantieme für
den Briten.) Oder wenn sie sich mal kurz heile Welt vorgaukeln. Bis der arme
Bauernbub, auf den die heuchlerische Jasmine ein sehnsüchtiges Auge geworfen
hat, mit seinem Motorrad in den Bergen zerschellt...
Harald Juhnke, vom Entertainer ins
Charakterfach wechselnd, bringt seinen Part mit Bravour. Allgemeine Gestikulation
wird künftig zwar nicht reichen, aber die Skizze hier eines blinden alten Herrn,
der sich gelegentlich aggressiv gegen den Bauernbub (Benjamin Utzerath)
austobt, so er ihn zu fassen kriegt, und der das ihm unbekannte Weib einmal
glücklich in die Arme schließt, kann sich sehen lassen. Hannelore Hoger als
vom Dasein enttäuschte Jasmine ist von ansteckender Lebenskraft. Besonders
wenn sie herzhaft lacht, ist die umwerfend elementar.
Viel Beifall für die Spieler, für den
Autor, den Regisseur.
Neues Deutschland, 30. März 1993