„Die Alphabeten“ von Matthias Zschokke in den
Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin, Regie Rolf Winkelgrund und Thomas
Langhoff
Wenn Talent sich nicht anpasst
Zeitgenössische Komödien-Schreiber sind so zahlreich nicht. Einer der wenigen, die der in Saturiertheit verkrusteten bürgerlichen Gesellschaft ironisch-kritisch beizukommen verstehen, heißt Matthias Zschokke. Er ist 1954 in Bern geboren, lebt seit 1980 in Berlin und hat 1990 die Komödie „Die Alphabeten" geschrieben. Das Stück wurde 1992 mit dem Gerhart-Hauptmann-Preis der Freien Volksbühne Berlin ausgezeichnet, im September dieses Jahres in Bern uraufgeführt und erlebte jetzt seine deutsche Erstaufführung an den Kammerspielen des Deutschen Theaters in Berlin. Zschokke kratzt respektlos an der Sozietät. Mit einer Art aphoristischem Naturalismus erfaßt er spöttisch Zeit und Leute.
Wie schwer zeitgenössisch Komisches zu machen ist, zeigt sich
aktuell auch daran, daß gleich zwei Regisseure, nämlich Rolf Winkelgrund und
Thomas Langhoff, Chef des Hauses, verantwortlich zeichnen. Offenbar brauchte
es zwei Inszenatoren, um das preisgekrönte Werk in Gang zu bringen. Wobei
dessen Gegenstand sinnigerweise just eine „Preiskrönung" ist, nämlich das
obskure gesellschaftliche Spiel um Talente, die aus dem Unbekanntsein in die
Bedeutung katapultiert werden und nun, bitteschön, den Erwartungen entsprechen
sollen, die Gönner und Sponsoren ihnen aufnötigen.
Die Auserkorene heißt Susanna Serval. Sie hat ein schönes
Buch geschrieben. Jedenfalls findet dies Dr. Samuel Seet, ein unermüdlicher Förderer
unerkannter Begabungen. Er schlägt Susanna zum Preis vor, sie nimmt ihn auch
an, aber sie kann davon nicht leben. Sehr zum Kummer des Doktor Seet hilft 'sie
sich mit Brotverkauf und mit primitiver Schaustellung beim Rummel. So ergeht es
den Talenten, die nicht vom Geld eines reichen Papas leben können. Susanna findet
sich mit ihrem Los ab. Dr. Seet aber endet, seelisch zerrüttet, im Krankenhaus.
Keine soziale Alternative. Woher denn auch. Schließlich hat soeben eine
Variante in Deutschland historisch versagt.
Die Komik muß sich denn also am Status quo entzünden. Erfreulich:
Regie und Ensemble kennen sich schon recht gut aus unter den
„Alphabeten", den des Wortes Mächtigen, und all jenen, die ihnen ausgeliefert
sind. Mit Spielfreude charakterisieren sie ihre Figuren. Christian Grashof
gibt den Dr. Seet. Er stellt einen freundlich-fahrigen, in Maßen eitlen Literaten
hin, der, vom unverbrauchten Charme der jungen Autorin angeregt, noch einmal
auflebt. Allein wie Grashof spielt, welch penibler Sauberkeitsfanatiker dieser
Dr. Seet ist und welch erschröckliche Reiseerfahrungen ihn seßhaft werden
ließen, ist sehenswert. Von delikater Komik ist auch Christine Schorn als
herrlich betuliche Kommissarin, die, noch rüstige Frau, dem Doktor Seet
hinterhersteigt. Aber die Insel, von der sie ihm vorschwärmt, kann ihn nicht locken.
Ihm hat es die eigenwillige Preisträgerin angetan. Claudia Geisler gibt die
Serval als ein ungelenkes, zartes, unbewußt selbstbewußtes Kellerkind.
Damen der feinen Gesellschaft: Elsa Grube-Deister als Kapellmeister-
und Barbara Schnitzler als Geiger-Gattin. Die Herren: Volkmar Kleinert als
hölzern-steifer Kunstmanager, Roland Hemmo als ein Machtworte mächtiger Barkeeper,
Michael Schweighöfer als leutseliger Gast aus den USA.
Ergötzliches ist vom Theater neuerdings selten zu berichten.
Hier überzeugt ein auch im heiteren Genre souveränes Ensemble. Beifall.
Neues Deutschland, 24. Oktober 1994