„Die Altruisten“ von Nicky Silver am Maxim Gorki Theater
Berlin, Regie Peter Wittenberg
Ethisches Niemandsland
Der Vater war Börsenmakler, die Mutter Pharmavertreterin
und Telefonseelsorgerin. Der Sohn saß mit elf zum ersten Mal im Theater und begeisterte
sich an einem Stück, das »nicht in einem Wohnzimmer spielte« und in dem »der
nackte Peter Flirth am Ende des l. Aktes
bis zum Orgasmus masturbierte!« Was den Jüngling animierte und zum
»zielstrebigen Fanatiker« für das Theater machte. Die Rede ist vom 1960 in
einem Vorort von Philadelphia geborenen Nicky Silver, einem produktiven
Stückeschreiber (u.a. 1986 »Fette Männer im Rock«, 1994 »Hackordnung«) und
überzeugten Verkünder der Trennung von Individuum und Moral.
Wie das ethische Niemandsland szenisch konkret ausschaut, ist jetzt in
präziser Regie von Peter Wittenberg am Berliner Maxim Gorki Theater zu sehen.
Dort spielt ein glänzend motiviertes und ebenso aufgelegtes junges Ensemble
vor überwiegend jungem Publikum Silvers schrille Komödie »Altruisten«, ein
zwar etwas redseliges, aber letztlich faszinierendes Stück über seelisch
verarmte junge Chaoten. Faszinierend, weil im Verlaufe des Abends sinnfällig
wird, dass die Trennung von Individuum und Moral nicht etwa eine sittenlose
Marotte des Autors ist, sondern dass er lediglich menschenbeobachterisch genau
festhält, was in der Gesellschaft längst stattgefunden hat.
In primitiven Behausungen (Bühnenbild Sascha Gross) campieren drei
mobile junge Leute, der homosexuelle Sozialarbeiter Ronald, die Lesbe Cyril
und der arbeitslose Ethan. Sie leben vom Einkommen Sydneys, der Schwester
Ronalds, einer überdrehten »Ferner liefen«-Seifen-Oper-Diva. Während der
egozentrische Ronald sich an der schönen Körperlichkeit des Strichjungen Lance
begeistert, den er ahnungslos in einer Bar aufgegabelt hat, treibt es die
männlich rauhbeinige Lesbe Cybil mit dem Schönling Ethan, den Diva Sydney zu
gleicher Zeit in ihrer Wohnung in ihrem Bette schlafend wähnt und dem sie eine
scheinbar höchst moralische Standpauke hält. Sie steigert sich so in ihre
leidenschaftliche Hassliebe, dass sie zum Revolver greift und dreimal schießt. Worauf
ein dicker Strahl Blut aus der Bettdecke spritzt. Was einen ersten Höhepunkt
dieses grotesk-ironischen Stückes setzt. Regisseur Peter Wittenberg (1994 Schwabs
»Präsidentinnen« am Burgtheater) gelingt es mit ästhetischem Geschick,
Handlung und Rededuelle, Gelaber und ernste Auseinandersetzungen zuverlässig
auf schmalem, aber wirkungsvoll verschmitzt-parodistischem Grat zu balancieren.
Allein wie Thomas Schmidt als eitler Ronald und Andreas Bisowski als spilleriger
Lance miteinander umgehen, ist ein spielerisches Kabinettstück. Während Ronald
pfauig gockelt und schwärmt, posiert und hofiert, bleibt der in sich versponnene
naive Lance völlig unbeeindruckt, keucht und hustet hilflos und verzieht
sich, zitternd um einen Joint bettelnd, in eine Ecke. Wie Beata Lehman die roststimmige
Lesbe Cybil mimt, dabei das Fuchteln und Staksen übertreibend, scheint mir, was
groteske Ironisierung betrifft, des Guten etwas zu viel, hat aber urkomische
Momente. Anna Steffens als blond perückte Sydney trifft herrlich desavouierend
die supermoderne TV-Frau, die ihre strotzende Naivität mit Plappermaul und
neckischer Pose kaschiert. Und - logo - der seelenlosen Sydney ist ihre kaputte
Ming-Vase wichtiger als die Leiche in ihrem Bett, die im Übrigen gar nicht Ethan
(Oliver Boysen) ist.
Die Lebensideale der Chaoten stehen auf dem Kopf. Ständig
wollen sie in überzeugter Selbstlosigkeit mit Stinkbomben und
Molotow-Cocktails für hehre Ziele zu irgendwelchen Protestkundgebungen aufbrechen.
Das finden sie echt cool. Aber eben auch, dass sie den stets hilfsbereiten arglosen
Lance ins Mordzimmer schicken, damit die Polizei einen Täter findet.
Gegen Ende scheint das dramaturgisch modern gebaute Stück
ein wenig auszufransen, was dessen sozialkritischen Anspruch aber nicht
schmälert. Eben noch ist man geneigt zu schmunzeln, dann jagt einem die
bestürzende Werteschizophrenie bei jungen Menschen beunruhigende Schauer über
den Rücken. Die Aufführung, die kurzfristig aus dem Studio ins große Haus
übernommen wurde (wohin sie meines Erachtens gehört), scheint hier und da -
wahrscheinlich wegen des Wechsels des Spielorts - zwar ein wenig unausgeglichen,
ist jedoch von beachtlichem künstlerischem Format. Souverän schafft sie
fröhliche Distanz zu fragwürdigem Tun. Ein Renner für junge Leute.
Neues
Deutschland, 15. Dezember 1999