Antike-Zyklus
des Théatre du Soleil aus Frankreich, Regie Ariane Mnouchkine
Die Treibjagd ist noch im Gange
Die Mittelhalle der DEFA-Studios in Babelsberg wurde zum Mekka des Theaters. Ariane Mnouchkine aus Frankreich hat dort während der 41. Berliner Festwochen die Gerüste ihres Théätre du Soleil aufgeschlagen. Vorstellung für Vorstellung lassen sich die Zuschauer von der genialen Theatermagierin verzaubern. Und sie quittieren das außergewöhnliche Erlebnis mit nicht enden wollenden Ovationen.
In die riesige Halle hat Guy-Claude
Francois eine mächtige, mit Holzbalustraden umgebene Spielfläche montiert. Sie
erinnert an das Hofinnere eines antiken Palastes. Keine Skene-Front also. Ein
einfaches Holztor in der Mitte. Ein Drittel des Bühnenpodestes ist rechts einem
Musikinstrumenten-Arsenal vorbehalten, wo vor allem Jean-Jacques Lemétre virtuos
brilliert.
Für die Zuschauer gibt es, ansteigend wie im
antiken Theater, eine gewaltige Tribüne. Darunter bereiten sich die Darsteller
vor. Sie schminken sich ihre weißen Gesichtsmasken. Sie richten ihre bunten
exotischen Kostüme. Dumpfes, fernes Grollen stimmt auf das Ereignis ein. Ein
furioser Trommelwirbel bildet den Auftakt.
Vorgeführt wird in drei Runden eine
mörderische Familiengeschichte, die des Atriden-Geschlechtes aus der
griechischen Mythologie. Wie wenig doch, wie eigentlich überhaupt nicht hat
sich der Mensch, dieses barbarische Raubtier, aus seiner mythischen Vorzeit
lösen können. Sich dies einmal mehr vom Theater bewußt machen zu lassen, lohnt
vielleicht nicht den Weg nach Babelsberg. Aber jede der offenbarenden Inszenierungen
der Mnouchkine. Ihre sagenhaften Bühnenwesen agieren auf keinen Kothurnen. Sie
sind vor allem Menschen. Sie handeln unter ihren schicksalsschweren Zwängen.
Sie töten. Sie leiden. Mythos und Gegenwart sind sich nah.
Das Bühnenfatum beginnt mit der
Tragödie „Iphigenie in Aulis" von Euripides. Das ist der erfolglose Kampf
einer Mutter um ihre Tochter. Klytemnästra (Juliana Carneiro da Cunha), der
Königin, gelingt es nicht, Agamemnon (Simon Abkarian), ihren Gatten, davon
abzuhalten, Iphigenie (Nirupama Nityanandan) für den Erfolg des Krieges gegen
Troja zu opfern. Der Aberwitz: Das junge Mädchen läßt sich vom Sinn ihres
Opfers überzeugen. Sie tanzt glücklich, legt sich demütig erwartungsvoll auf
den Schlächter-Altar.
Die szenischen Mittel der Mnouchkine sind multibel,
gewonnen aus dem Welttheater. Da ist das gestische Material des einfühlenden
europäischen Theaters ebenso zu beobachten wie das des verfremdenden
asiatischen. So provoziert die Regisseurin fortwährend das Mitleiden des Zuschauers
und zugleich dessen Distanz. Sie macht ein Theater, das aus seinem
tänzerisch-mimetischen Urgrund zu kommen scheint und doch ganz gegenwärtig ist.
Dabei ist schon erstaunlich, wie selbstbewußt die Regisseurin ihre erfolgreichen
Wirkungen wiederholt. Bei ihrem Shakespeare-Zyklus Anfang der achtziger Jahre war
aufgefallen, daß sie der Bühne gleichsam eine neue Dimension erschloß, indem
sie die Figuren hockend malerisch im Raum plazierte. So auch jetzt. Wenn Könige
ihre unerbittlichen Auseinandersetzungen sitzend absolvieren, ist unübersehbar:
Hier wird Theater gespielt. Allerdings faszinierend.
Beispielsweise im Umgang mit dem Chor. Die
Frauen von Chalkis bei Euripides wirbeln über die Bühne, mal als rein
tänzerische Einlage, mal als moralische Stütze ihrer Sprecherin. Und die argivischen
Greise bei Aischylos, ziemlich flott noch auf den Beinen, etwas karikiert
kostümiert, beherrschen die Tänze devoter Hofschranzen ebenso wie die selbstbewußt
protestierender Bürger.
Aber was nützt Bürgerprotest. Die
Tragödie „Agamemnon" aus der „Orestie" des Aischylos, gegeben in der
zweiten Runde, führt vor, daß die Mächtigen sich ungern anhören, was
aufgebrachte Alte vorbringen. Aeghistos (Georges Bigot), der neue Herrscher,
droht mit gezogenem Messer. Nur Klytemnästra, seine Geliebte, kann ihn bändigen.
Immerhin regen sich die Bürger über einen Doppelmord auf. Klytemnästra hat sich
gerächt, hat Agamemnon und Kassandra, dessen Gespielin, gnadenlos umgebracht.
Das Töten hört nicht auf. Wir erfuhren es
unlängst bei Heiner Müller im Deutschen Theater. Wir erfahren es bei Ariane
Mnouchkine. Wir schauen uns das ästhetisch aufbereitete Elend, ohnmächtig, wie
wir sind, immer wieder an. Auch in der dritten Runde. Keine Genugtuung, nur
Bitterkeit, wenn der vaterrächende Orest in Aischylos' Tragödie
„Choephoren" Klytemnästra, seine Mutter, erbarmungslos umbringt. Die
Mnouchkine endet ihre Vorstellungen mit aufkommendem Hundegekläff, das sich
wild steigert. Wie bei einer Treibjagd. Sie ist noch im Gange...
Neues
Deutschland, 24. September 1991