"Der Auftrag" von Heiner Müller im Berliner Ensemble, Regie Frank Castorf

 

 

Heimat für Herren und Sklaven

 

 

Picassos Friedenstaube, Wahrzeichen auch des Berliner Ensembles, grüßte einmal wieder vom Bühnenvorhang. Erinnerungen wurden wach an große, weltberühmte Aufführungen in diesem Haus. Solch Maßstäbe setzendes Signal kann Frank Castorf nicht ohne Absicht gewählt haben für seine Inszenierung der "Erinnerung an eine Revolution", wie Heiner Müller sein Stück "Der Auftrag" im Untertitel nannte. Die Erwartungen stiegen.

 

Ursache für Enttäuschung mag sein, dass ich 1980 die Uraufführung des Stückes im 3.Stock der Berliner Volksbühne sah, die Heiner Müller in Zusammenarbeit mit Ginka Tscholakowa selbst besorgt hatte. Die Inszenierung mit Jürgen Holtz als Verräter Debuisson, Hermann Beyer als Bauer Galloudec und Dieter Montag als Sklave Sasportas schien mir damals eine etwas umständliche Bestandsaufnahme, verfremdet in barock anmutenden Bildern. Doch sie war äußerst konzentriert auf die verbalen Aussagen, und die Figuren, durchaus typisiert, agierten elementar in der existentiell bedrohlichen Situation, in der sie sich befanden.

 

Castorf zerzaust den Fall. Er nahm die ernste Angelegenheit heiter und organisierte im kubistischen Bühnenbild Hartmut Meyers ein surrealistisches Clowns-Spiel. Wobei er mit diversen, nun schon abgenutzten Uralt-Einfällen wie Spritzen mit Wasser langweilt. Andererseits schafft er Phasen betonter Nachdenklichkeit.

 

Müller hatte Anna Seghers Geschichte "Das Licht auf dem Galgen" gelesen. Ihn interessierte das Motiv des Verrats. Darauf konzentrierte er sein deklarierendes Stück. Drei Abgesandte des französischen Konvents sind im fernen Jamaika plötzlich auf sich allein gestellt. Ihr Auftrag, einen Sklavenaufstand zu organisieren, ist hinfällig geworden; denn die Revolution, in deren Namen sie aus Frankreich gekommen waren, ist zwar nicht gescheitert, aber durch den Staatsstreich Napoleons beendet. "Die Welt wird was sie war, eine Heimat für Herren und Sklaven." Debuisson, revoluzzender Sohn eines Sklavenhalters, kehrt in den Schoß der Familie zurück, der Bauer Galloudec und der ehemalige Sklave Sasportas klammern sich an Widerstand als eine letzte Hoffnung.

 

Während Hermann Beyer als Debuisson und Dieter Montag als Galloudec situativ genau agieren, stört eine Fehlbesetzung. Silvia Rieger, außerordentlich engagiert zwar, ist darstellerisch von einem anderen Stern. Sie mimt und singt exaltiert in meist einfach unerträglicher Manier. Wenn sie die Verzweiflung des ehemaligen Sklaven Sasportas spielen soll, liefert sie eine schrille Show egozentrischer Überdrehtheit.

 

Als ich schon verzagte, verblüffte der Regisseur mit dem Monolog des Mannes im Fahrstuhl. Das ist die Szene, ein "Traumprotokoll", die Müller aus sozialistischer Zeit in die französische Geschichte montierte: Ein Funktionär, ziemlich nachdenklich, im Paternoster auf dem Wege zur Entgegennahme eines Auftrages. Castorf nun zeigt gleich mit, was aus dem Manne wird, nämlich einer, der sich in ein Faß hat sperren lassen und der, als er wieder herauskommt, nichts anderes als "Helmu..." zu stammeln vermag und sich kindisch über Bananen freut. Was Uwe Steinbruch trefflich hinkriegt. Die kabarettistische Aufbereitung dieser Szene macht die Inszenierung nicht nur aktuell, sie stimuliert Aufmerksamkeit für die Tragik der drei Abgesandten. Debuisson, der Ausbeutersohn, der sich lossagt von der Revolution, und dem das nicht leicht fällt; Galloucec, der Bauer, dem das alles zu schnell geht. Und Sasportas, der Sklave, der ausflippt. Was Frau Rieger wie beschrieben besorgt, womit sie die Aufführung in der Substanz beschädigt.

 

Welche Lädierung auch Marianne Hoppe nicht vergessen zu machen vermag, die sich einen Wunsch erfüllt, nämlich unter Castorf zu arbeiten. Er besetzt sie als Antoine, als Erste Liebe und als Erzählerin. Und die große alte Dame des deutschen Theaters gibt ihren Auftritten Ruhe und Besinnlichkeit. Wenn sie am Schluß gemessen kommentiert und die Spieler Steinbruch, Werner, Rieger und Montag vorn an der Rampe keck wie zu neuem Tänzchen herausfordern, entzückt da eine spielerische Mischung von Tragik und Ironie, wie sie von Castorf offenbar insgesamt gewollt, aber nicht durchweg erzielt wurde.

 

Beifall. Aber auch allerhand Buh-Rufe für den Regisseur.

 

 

 

Neues Deutschland, 7. Juni 1996