„Der Auftrag“ von Heiner Müller am Theater Am Turm Frankfurt am Main, Regie Eduard Erne

 

 

 

Der Revolutionen mystische Widersprüchlichkeiten

 

Zum ersten Jahrestag der Maueröffnung am 9. November 1989 bot die Akademie der Künste zu Berlin (vormals der DDR) eine Produktion des „Theaters Am Turm" aus Frankfurt am Main. Dort hatte die szenische Lesung von Heiner Müllers „Der Auftrag", der „Erinnerung an eine Revolution" nach Motiven aus der Erzählung „Das Licht auf dem Galgen" von Anna Seghers, im Juni dieses Jahres Premiere.

Ob damals eher Experiment oder Happening mit„Ex"-Revolutionären wie Daniel Cohn-Bendit, Klaus Jünschke und Christof Wackernagel, die die Lesung im wesentlichen bestreiten, oder ob nun heute eher feierliche Nostalgie im akademischen Saal der Akademie - die geistige Herausforderung ist groß.

Als Heiner Müller den Text im Dezember 1980 in eigener Regie mit den Schauspielern Hermann Beyer (Galloudec), Jürgen Holtz (Debuisson) und Dieter Montag (Sasportas) im 3. Stock der Berliner Volksbühne uraufführte, schien Verrat das Hauptthema. Der Intellektuelle Debuisson und seine Kampfgefährten Galloudec, der Bauer, und Sasportas, der Farbige, waren als Emmissäre der Französischen Revolution nach Jamaika geschickt worden, um dort einen Aufstand der schwarzen Sklaven gegen ihre Ausbeuter zu organisieren. Weit waren die Vorbereitungen gediehen. Als aber die Nachricht vom Machtantritt Napoleons aus Frankreich eintrifft, verzagt Debuisson, tritt vom Auftrag zurück und begibt sich wieder in den Schoß der Ausbeuterfamilie, aus der er gekommen war. Sasportas attackiert den Verräter, Galloudec putzt besonnen seine Waffe. Beeindruckend dies Offenkundige.

Eine fast stärkere Wirkung aber hatte schon in der Uraufführung etwas Hintergründiges: die lange Passage vom „Mann im Fahrstuhl", Müllers aktueller, wenn auch versteckter Kommentar zur „Funktion" eines Auftrages für den „Funktionär". Hier nämlich setzt der Dichter den gewissermaßen historischen Auftrag von einst kritisch in Beziehung zum „Parteiauftrag". Nicht zufällig rückt diese Passage jetzt in die besondere Aufmerksamkeit.

Ich mag nicht rechten über Günter Schabowskis Bereitschaft, per Video den Text des „Mannes im Fahrstuhl" einzulesen. Aber kompetenter als von einem Politbüromitglied der ehemaligen SED konnte das Manipulatorische, das Willkürliche im Umgang mit Parteiaufträgen kaum entlarvt werden. Der Dichter erfaßt die Pervertierung des Vorganges, er erhellt, was eine stalinistische Partei daraus gemacht hat. Daß mit „Parteiaufträgen", ja nicht einmal mit einer „Partei neuen Typus" gesellschaftliche, insbesondere ökonomische Prozesse letztlich nicht überlistet werden können, hat die Geschichte inzwischen gnadenlos bewiesen.

Es ist nun ein Vorzug der Frankfurter szenischen Lesung, daß sie zur eigentlichen historischen Dimension der angesprochenen Probleme zurückfindet. Dabei ist nicht wesentlich, einmal wieder zu sehen, wie die Revolutionäre vom vorigen Jahr in ihren Autos durch die geöffnete Mauer gen Westen fuhren, zurück in die kapitalistische, aber eben vorwärts in die demokratische deutsche Republik.

Wesentlicher ist die vertiefte Sicht auf Heiner Müllers Botschaft. Dazu gehören Sentenzen wie „Was die Menschheit eint, sind die Geschäfte" oder „Jetzt will ich sitzen, wo gelacht wird" oder „Die Heimat des Sklaven ist der Aufstand". Dazu gehört vor allem Müllers realistischer Blick auf Geschichte. Und die Interpretation (Leitung: Eduard Erne) verhilft dem Zuhörer, ergänzt durch die zahlreichen Filmzitate (von Eisensteins „Oktober" bis Cohn-Bendits „Wiedersehen mit der Revolution"), zu von Dogmen befreitem geistigen Umgang mit Revolutionen und deren geradezu mystischen Widersprüchlichkeiten: Der Aufstand der Sklaven wurde niedergeschlagen – aber die Sklavenhalterordnung brach zusammen. Die bürgerliche Französische Revolution verkam im Napoleonismus - aber die Feudalordnung brach zusammen. Die sozialistische Revolution verkam im Stalinismus - aber...

Eine Assoziationskette. Mehr nicht. Doch wozu sonst werden öffentliche Lesungen poetischer Texte veranstaltet? Der Truppe vom Theater Am Turm sei gedankt.

 

 

 

Neues Deutschland, 13. November 1990