"Baal" von Bertolt Brecht im Berliner Ensemble, Regie Peter Palitzsch

 

 

Eine quabbelige Tunte wird abgeknallt

 

 

Am Berliner Ensemble riskierte Peter Palitzsch eine neue Begegnung mit Bertolt Brechts Erstling "Baal". Das rundum unausgegorene Stück aus dem Jahre 1918, das, mehrfach umgearbeitet, nach der Leipziger Uraufführung 1923 vom dortigen Oberbürgermeister erst einmal abgesetzt worden war, in der Fassung von 1926 in Berlin am Deutschen Theater noch immer heiß umstritten blieb, ist heute eine Enttäuschung.

 

Ob nun "Originalgenie" (1918) oder "Aussteiger" (1926) – von den Sitzen reißt Baal nicht mehr. Selbst einem Palitzsch gelang nicht, aus dem expressionistischen Spektakel von einst aktuelle Funken zu schlagen. Was vielleicht machbar gewesen wäre, hätte er einen Rülps akzentuiert, der sich wirklich mit der Gesellschaft anlegt, der sie brüskiert, sich egozentrisch auslebt und verkommt. Er aber bietet einen Allerwelts-Tunichtgut. Das Allerwichtigste jedoch: Statt psychologisierend Ausführlichkeit anzustreben, hätte das Kunstfigürliche betont werden müssen.

 

Da lob ich mir Bernd Weißigs Inszenierung 1988 am Hans-Otto-Theater Potsdam mit Michael Walke als Baal. Ein asozialer, wirklich junger Mann, ein sich der Arbeit entziehender Automonteur, wurde als eine Figur der Poesie vorgeführt, geriet dergestalt nicht zum profanen Beispiel, sondern blieb immer spielerische Möglichkeit. So wurde Weißig damals auch der eigensinnigen Dialogführung Brechts gerecht. Die eben nicht naturalistisch ist.

 

Auch Alejandro Quintana hatte 1988 am BE zu psychologisieren versucht. Er sah in Baal, gespielt von Ekkehard Schall, einen mit der Gesellschaft nicht zurechtkommenden Liedermacher, und stellte ihn in naturalistischer Ausdeutung vor. Insgesamt hatte er allerdings immerhin noch das, was man den sozialen Gestus einer Gestalt und einer Aufführung nennt.

 

Darauf verzichtete Palitzsch. Mir scheint, genügend Verfremdung erhoffte sich der Regisseur vom Bühnenbild Karl Kneidls. Aber das war so heterogen, so ausführlich im Nebensächlichen obendrein, dass beispielsweise das Abmontieren eines schweren, bis in den Schnürboden reichenden großen Birkenstammes fast zur Hauptattraktion des Abends wurde. So stilistisch unentschieden die Szenerie, so unentschieden leider auch die Regie.

 

Nun könnte man einwenden, der frühe Brecht lasse sich auf episch-dialektisches Theater ohnehin nicht festlegen, sei vielmehr noch offen für jede Lesart. Zugestanden! Dennoch sollte, möchte ich meinen, jene Charakterisierung für Baal zutreffen, die Brecht gab. In "Baal", meinte er, "kommt ein Hamster ... vor, ein ungeheurer Genüßling, ein Kloß, der am Himmel Fettflecken hinterläßt, ein maitoller Bursche mit unsterblichen Gedärmen."

 

Das alles scheint Volker Spengler, Palitzschs Lieblingsdarsteller, a priori und bestens einzubringen. Er ist sogar Kloß und Fettfleck in einem. Aber er ist kein maitoller junger Bursche. Er gibt eine abgewrackte, quabbelige Tunte. Das ist das Ärgerliche: Spengler spielt die Figur nicht, er leiht ihr seine massige Leibesfülle und glaubt, wenn er dazu den Text stereotyp herunterleiert, sei das schon der ganze Lyriker Baal. Spengler ist einer jener immer mal wieder auftauchenden Mimiker, die mit Drückerchen und rollenden Augen ihre Fans in Begeisterung setzen. Solche Experten waren am BE nicht mehr zu besichtigen, aber die Zeiten ändern sich eben.

 

Glücklicherweise war bei den Randfiguren zu sehen, was gestisch konkrete Schauspielkunst ist. Glänzend die ironisierte Bürgerrunde mit Stefan Lisewski, Hans-Peter Reinecke, Martin Seifert und Arno Wyzniewski am Stammtisch. Trefflich Simone Frost als Sophie Barger und Annemone Haase als Portierfrau. Urs Hefti als Eckart reitet seine Wiener Mundart, Stefanie Stappenbeck als Johanna zeigt gepflegtes Laienspiel.

 

Schlusspointe der Regie: Förster Watzmann (Michael Gerber) knallt dem im Wald dahin vegetierenden Baal eine Kugel in den Kopf. Eine Empfehlung an die Politik für den Umgang mit Asozialen? Oder sarkastischer Verweis auf längst gegebene reale Sachverhalte? Im letzten Moment denn doch noch brisantes Theater...

 

 

 

Neues Deutschland, 23. November 1993