„Die Bakchen“ des Euripides vom Delphi-Festival-Theater Athen, Regie Theodoros Terzopoulos  -  Gastspiel im Berliner Ensemble

 

 

 

Ins Zeremoniell eingesperrt

 

Im Berliner Ensemble war das Delphi-Festival-Theater Athen zu erleben. Die Truppe, die sich vornehmlich der Pflege des griechischen Erbes widmet, zeigte hier „Die Bakchen" von Euripides, eine Inszenierung, die 1986 eigens für das alljährlich stattfindende Delphi-Theatertreffen — einer Werkstatt zur zeitgenössischen Interpretation antiker Stoffe — entstand. Nun also stellte sich das Ensemble im Reigen ausländischer Gastspiele zum Berlin-Jubiläum mit einer Aufführung vor, die den Ursprüngen antiker Kultur nachzugehen suchte.

Euripides (um 484 bis 407/06 vor unserer Zeitrechnung), der jüngste der drei großen attischen Tragiker, folgte um 408 dem Ruf des Königs Archelaos von Makedonien, wo die traditionellen Feste zu Ehren des Dionysos, des Gottes der Fruchtbarkeit und des Weines, noch ursprünglich ekstatisch gefeiert wurden. Das Erlebnis dieser alten Volksbräuche mag ihn angeregt haben, dieses Stück zu schreiben. In seiner drastischen, unbeugsamen Art fragt er, indem er einen unversöhnlichen Streit um den Dionysoskult zum Anlaß nimmt, nach menschenwürdigem Verhalten in krisengeschüttelter Zeit. Und obwohl die Vorgänge seiner Tragödie eindeutig ablaufen, haben sie viele Deutungen erfahren.

Dionysos, Sohn des Zeus, erscheint unerkannt in Theben. In auffällig kleinlichem Verfolg verwandtschaftlicher Angelegenheiten — weil nämlich seiner Mutter Schwestern behaupten, er sei kein Kind des Zeus! — hat er alle Frauen in weltabgewandte Ekstase versetzt und obendrein in ein Waldgebirge verbannt. Sein eigentlicher göttlicher Zorn richtet sich gegen Pentheus, den König der Thebaner, der dem närrischen dionysischen Treiben Einhalt gebieten will.

Also demütigt Dionysos ihn, läßt ihn dann von den mittlerweile in den Wahnsinn getriebenen Frauen zerfleischen und sein Haupt im Triumph durch Theben tragen. Der Chor endet die Tragödie mit einem Lobgesang auf die Allmacht der Götter — und dies, obwohl gerade einer von ihnen, eben Dionysos, sich vor den Zuschauern dermaßen unerbittlich grausam aufgeführt hat, daß Pentheus, so starrsinnig frauenfeindlich er auch gewesen sein mag, nachträglich moralisch aufgewertet wird. Eine Fabel, aus der die erschütternde Wucht eines ungeheuren Konflikts abzulesen ist, nicht lediglich eine abstrakte Gegensätzlichkeit von Rationalem (König) und Irrationalem (Gott) oder von Intellekt und Instinkt.

Die Lesart von Regisseur Theodoros Terzopoulos, dem künstlerischen Leiter des Ensembles, verzichtete jedoch auf eine Auslotung dramatischer Konflikte. Ihn interessierte „jener vorzeitliche Zustand, da Vernunft und Instinkt noch nicht endgültig getrennt sind". Womit er aus des Dichters Zeit heraus und weit in die Geschichte zurückging, nämlich tief in die Urgesellschaft. Dort suchte er das allgemeine „Bedürfnis des Körpers, dem erotischen und tödlichen Teil menschlicher Existenz Ausdruck zu geben". Zu diesem Zwecke gebrauchte er den Text.

So bekamen wir ein kurzes mystisches Kultspiel zu sehen, in dem lendengeschürzte Gestalten in Trance schreitend, kriechend, gestikulierend und artikulierend ein weihevolles Ritual zelebrieren. Terzopoulos hat die Gegenbewegung dessen inszeniert, was Brecht einmal so beschrieb: Theater wurde zum Theater dadurch, daß es „aus dem Kultischen", „aus den Mysterien" auszog.

Ich verkenne nicht die besondere ästhetische Anziehungskraft dieser lebendigen völkerkundlichen Studie uralter griechischer Bräuche. Solch unerwarteter Blick zurück auf die ins Zeremoniell eingesperrte Kreatur provoziert durchaus eine gewisse Bereicherung der Sinne, zumal sich Sophia Michopoulou, Kalliopi Tachtsoglou, Akis Sakellariou, Giorgos Simeonidis und Dimitrios Siakaras dieser Darstellungsweise inbrünstig hingeben. Die mit den Klängen eines Holzblasinstrumentes (Nikos Philippidis) und den Trommelrhythmen harmonierende und kontrastierende Lautmalerei der Darsteller und die drängend-gewichtige, beschwörende Sprechweise vermittelten zusätzlichen Reiz. Ein insgesamt ungewöhnlicher, exotisch anmutender Theaterabend, dem das Publikum mit Respekt applaudierte.

 

 

 

Neues Deutschland, 26. Januar 1987