„Die Bakchen“ des Euripides am Staatsschauspiel Dresden, Regie Klaus Dieter Kirst

 

 

 

Antike Tragödie zu leicht genommen

 

Wenige Wochen nach dem Gastspiel des griechischen Delphi-Festival-Theaters in Berlin, das „Die Bakchen" des Euripides in einer völkerkundlichen Studie vorstellte, brachte das Staatsschauspiel Dresden die antike Tragödie unter dem Titel „Die Besessenen" zur DDR-Erstaufführung. In der Übersetzung und Bearbeitung von Gerhard Piens und in der Regie von Klaus Dieter Kirst (Ausstattung Henning Schaller) ist das nun ebenfalls eine Inszenierung, die selbstbewußt eine extreme Lesart verficht.

Die Dresdner überspielen, daß Gott Dionysos in diesem Stück den Thebanerkönig Pentheus aus kleinbürgerlich-borniertem Grunde von dessen Mutter Agaue viehisch umbringen läßt, und feiern Dionysos als Bringer des Neuen in Griechenland. Den auf Ordnung bedachten Pentheus aber machen sie lächerlich als Tyrann einer einst glanzvollen, jetzt schäbig-heruntergekommenen Polis. Nichts von wegen Tragödie, recht geschieht dem Kerl.

Bei solch undifferenzierter Gegenüberstellung muß das Phantastische, das Unwägbare der dionysischen Hysterie, die aller Vernunft widersprechende Besessenheit der Frauen im kultischen Blutrausch, vom Publikum bedingungslos akzeptiert werden als etwas angeblich Progressives — womit der heutige Zuschauer nun allerdings seine liebe Not hat. Er kann nur schwer — wenn überhaupt — nachvollziehen, daß dieser Gott der Fruchtbarkeit und des Tanzes, der den Armen und Reichen ein heiteres Leben verspricht, es nötig hat, derart grausam zu sein.

Dionysos setzt seinen bacchantischen Kult mit Gewalt durch, zunächst in menschlicher, dann in göttlicher Gestalt. Ein aktuelles Thema war das zu Euripides' Zeit nicht mehr, denn der Brauch zu Ehren des Gottes hatte sich im Gefolge des Weinbaus bereits vor Hunderten von Jahren über ganz Griechenland ausgebreitet. Der Dichter nutzte die mythologische Überlieferung für zeitgenössische Impulse. Seinem König Pentheus widerstrebt, daß die thebanischen Frauen unverhohlen offen dem Gotte des Weinrausches und der Liebeslust huldigen. Aber seine Maßnahmen bleiben im Vergleich zum Terrorakt des Gottes schlicht und einfach menschlich. Der größere Theaterbösewicht ist Dionysos.

Die Besessenen im Waldgebirge symbolisieren zwar den berechtigten Anspruch der Frau auf Emanzipation von „Webstuhl" und „Spindel" (Euripides), doch ihre Ekstase, der von Dionysos verursachte Ausbruch in den Wahnsinn ist ein Rückfall in kultische Barbarei.

Der Dresdner Sicht zufolge tritt Dionysos (Christoph Hohmann) nur in Menschengestalt auf, nicht herrisch-gebieterisch, sondern als ein im Grunde umgänglich-freundlicher Geselle. Nur einmal frohlockt er höhnisch-schrill, als er das Verderben seines Widersachers in die Wege geleitet hat. Die verheerende Allmacht des Gottes — bei Euripides zerstört er das Königsschloß — wird in Dresden verharmlost. Hier entlockt er unter Blitz und Donner lediglich einer gestuften grauen Betonfeste allerhand Qualm. Die alten Herren Kadmos (Joachim Zschocke) und Teiresias (Wolfgang Gorks) raten kaum furchtsam zur Befolgung des Kultes, sondern eher mit pfiffiger Hoffnung auf späte Lust. Der Pentheus von Joachim Nimtz agiert als das magisch-mephistophelische, komisch bloßgestellte Prinzip des Bösen, nicht aber als ein in tiefen tragischen Konflikt getriebener Mensch und Herrscher. Und Regina Jeske steht als Agaue vor der unlösbaren schauspielerischen Aufgabe, den Mord am Sohn zu rechtfertigen, obwohl doch aller Anlaß wäre, deren kultisch-religiöse Raserei zu verurteilen. Euripides immerhin schickte die fanatisierte Mörderin in die Verbannung.

So kommt denn wahrhaft tragische Beklemmung in Dresden nicht auf. Der „zum Jammern ruhmvolle Sieg" der Bacchantinnen läßt merkwürdig ungerührt. Sollte die Substanz der Tragödie, deren über die Jahrtausende gültige poetische Mahnung, gar nicht gespielt worden sein?

 

 

 

Neues Deutschland, 18. März 1987