„A Delicate Balance“ von Edward Albee in den Kammerspielen des Deutschen
Theaters Berlin, Regie Friedo Solter
Trouble in der Upperclass
Brillante Schauspielkunst. In den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin präsentiert Regisseur Friede Solter des US-Amerikaners Edward Albee Dreiakter »A Delicate Balance« (»Empfindliches Gleichgewicht«) mit einem Top-Ensemble.
Das Stück aus dem Jahre 1966 mit sechs Paraderollen ist -
zugegeben - nicht eben von aktueller Brisanz. Aber es hat psychologischen
Tiefgang. Der Erfolgsautor von »Wer hat Angst vor Virginia Woolf« lotet
Kalamitäten menschlichen Zusammenlebens minutiös aus. Wenn ich recht hingehört
habe, ist der Begriff »Friedliche Koexistenz« sein dramaturgischer Drehzapfen.
Der Dramatiker wollte, als in den 60er Jahren große, verfeindete Staaten um
besagtes Koexistenz-Problem rangen, auf der Bühne und in einer US-amerikanischen
Nobelfamilie durchspielen, was das wohl für Folgen haben könnte, wenn Leute mit
schier unvereinbaren Interessen sich gezwungen sehen, friedlich miteinander
auszukommen.
Ruhiger Villen-Vorort. Luxuriöses Domizil. Alle
Voraussetzungen für ein angenehmes Leben. Bühnenbildner Hans-Jürgen Nikulka
deutet allerdings schon an, daß im mondänen Haus des reichen Herrn Tobias
möglicherweise etwas schief läuft. Rechts in der Wohndiele, dort, wo die
Bewohner an der Hausbar oft und immer öfter zweifelhafte Stabilität tanken,
stehen die Wände senkrecht; links aber und im Hintergrund, wo eine futuristische
Liege wenig Bequemlichkeit bietet, fügen sich Wände, Türen und Terrasse schräg
zueinander. Dennoch Gleichgewicht im Hause. Vorerst.
Agnes, die betagt-kapriziöse Hausherrin, stört ihren
geruhsam lesenden Gatten mit Spintisiererei über die Eventualität, nicht mehr
alle Tassen im Schrank zu haben. Christine Schorn erörtert das deliziös, ihre
Gedanken immer wieder mit autoritär-nonchalantem Wippen des Fingers betonend.
Halb nörgelt sie pikiert in sich hinein, halb provoziert sie. Tobias, bei Dietrich
Körner der Typ des honorigen, umgänglichen amerikanischen Senators, reagiert
genervt, bewahrt aber Contenance. Ziemlicher seelischer Leerlauf, aber immerhin
in bewährten konventionellen Formen.
Alsbald jedoch wird das »Gleichgewichts«-Vermögen des im
Aushalten von Widersprüchen durchtrainierten Ehepaares hart geprüft. Und zwar
durch die im Hause wohnende Schwester der Agnes, durch Claire. Die Frau trinkt
gewöhnlich etwas zu viel, wehrt sich aber, als idiotische Alkoholikerin
behandelt zu werden. So leger selbstbewußt, wie sie von Jutta Wachowiak
vorgeführt wird, ist diese Dame in ihrer ursprünglichen Aufrichtigkeit ein
Störfaktor, der sich gerade noch verkraften läßt.
Doch nun kommt's dicke. In Gestalt zunächst eines befreundeten
Ehepaares, das im eigenen Heim von undefinierbarer Angst befallen wurde und
sich, egoistisch Gastfreundschaft einfordernd, kurzerhand bei Agnes und Tobias
einquartiert. Cornelia Heyse (Edna) und Michael Gerber (Harry) stellen ein
schlimm verstörtes Paar dar, dem man wirklich gönnt, erst einmal Zuflucht zu
finden.
Die so zustandegekommene, wenn auch einigermaßen groteske
Koexistenz ist allerdings sofort in Gefahr. Tochter Julia kehrt nämlich heim
und erhebt Anspruch auf ihr Zimmer. Sie will sich nach ihrer vierten
gescheiterten Ehe im Hause ihrer Eltern erholen. Cornelia Schirmer trifft frappierend
die infantile Exaltiertheit von verwöhnter junger Dame und verzogenem Kind.
Wenn sie hysterisch ausrastet und mit einer Pistole bewaffnet das mühsam
erzielte Gleichgewicht in Frage stehlt, weil sie das fremde Ehepaar aus ihrem
Zimmer vertreiben möchte, erreicht die Fallstudie Albees ihren Gipfelpunkt.
Fazit: Allerhand fast neurotische Aggressivität. Aber auch Kraft zur
Verständigung. Bei der Upperclass. Die letztlich noch immer - zumindest nach
außen - die Form zu wahren versteht, so absurd das zugehen mag. Agnes und
Tobias, Claire und Julia, Edna und Harry - sie finden aus dem Trouble. Und
Agnes begrüßt herzensfroh und nicht eine Idee toleranter die Sonne des neuen
Tages.
Wobei mir auffällt, daß Friedo Solter, der in Sachen verfremdender
Ironie erfahrene Regisseur, nicht auf sozialkritische Distanz zu den Figuren
geht. Sie sind halt verdammt nah neuerdings.
Neues
Deutschland, 25. November 1998