Das Berliner Ensemble nach Heiner Müller

 

 

 

Etikettenschwindel?

 

 

Gerangel um den Intendanten-Sessel des Berliner Ensembles. Jedenfalls versucht ein Teil der herrschenden Medien diesen Eindruck zu erwecken. Offenbar geht es um eine begehrenswerte Position im deutschen Theatergeschäft. Als Kandidaten werden Künstler genannt, die zu Bertolt Brecht und Heiner Müller eine Beziehung haben wie der Regierende Diepgen zu DDR-Autoren. Nämlich keine. Aber je mehr Wirbel in aller Öffentlichkeit veranstaltet wird, desto gewisser kann von dem eigentlichen Problem abgelenkt werden.

Nur zur Erinnerung: Das Berliner Ensemble war stets ein Ort politischen Theaters. Ob dieses Markenzeichen nach der Liquidierung der DDR mit der Inthronisation einer fünfköpfigen Leitung erhalten werden sollte, weiß vielleicht der Berliner Kultursenator. Daß fünf eigenwillige Regisseure letztlich nicht an einem Leitungsstrang würden ziehen können und wollen, hätte man wissen können. Doch wie auch immer: Das Fortbestehen des Ensembles war mit der Langhoff-Marquardt-Müller-Palitzsch-Zadek-GmbH erst einmal gesichert.

Es kam, wie es kommen mußte: Ein Künstler setzte sich durch. Daß dies Heiner Müller sein würde, war nicht vorauszusehen. Und schon gar nicht, daß er das Haus im Geiste Bertolt Brechts leiten würde, nämlich als ein Theater politischer Herausforderung mit wahrnehmbar antikapitalistischem Drall. Dem verstorbenen Dichter, Regisseur und Intendanten wird deswegen „DDR-Nostalgie" vorgeworfen. Im Klartext: Diverse bürgerliche Meinungspäpste wünschen, sich im Zuge der Neubesetzung der Leitung nun endlich die Entpolitisierung des Berliner Ensembles. Welcher deutsche Künstler hat angesichts anhaltender Diffamierung alles dessen, was mit der DDR irgendwie zu tun hat, den Mut und das Format, sich zu einem Theater des sozialen Realismus zu bekennen? Das ist gewiß: Ohne einen „Marktwert", wie ihn der international anerkannte Heiner Müller besaß, ist die bevorstehende Medien-Schlacht kaum zu schlagen. Selbst solch renommierter Regisseur wie Peter Zadek ist ob seines vermeintlich grauen politischen Ausfluges - siehe „Wunder von Mailand" und „Jasager und Neinsager" - böse attackiert worden. Es müßte sich ein tollkühner Mann finden. Er ist nicht in Sicht.

Also werden wir uns darauf einstellen müssen, dass am Ensemble verbliebene Verbündete Müllers noch alles versuchen, sein Vermächtnis zu erfüllen, und daß gleichzeitig eine neue Leitung eine letzte Phase des Lavierens einleitet. Das könnte, wenn fähige Regisseure die Auseinandersetzung mit den Werken Shakespeares, Brechts und Müllers suchen, sogar noch einmal eine ästhetisch bemerkenswerte Zeit werden. Und zwar dann, wenn mit den Mitteln dialektischen Theaters die zeitgenössische Relevanz dieser Dichter erkundet würde. Laufen die Inszenierungen jedoch so, wie das fatal noch zu Lebzeiten Müllers Herr Szeiler mit „Philoktet" praktizierte, wird das Ensemble in kürzester Zeit in der Bedeutungslosigkeit versinken. An theatral affektierten Formspielereien mit der menschlichen Seele krankt das deutsche Theater ohnehin zur Genüge.

Möglicherweise wird es schon bald redlich sein - gegenüber dem Publikum wie gegenüber der Theatergeschichte -, das Haus in Berlin-Mitte wieder schlicht Theater am Schiffbauerdamm zu nennen. Alles andere wäre Etikettenschwindel.

 

 

 

Neues Deutschland, 12. Januar 1996