„Bericht für eine Akademie“ von Franz Kafka am Berliner Ensemble, Regie
George Tabori
Dem Schicksal trotzen
Saaldiener Karl-Heinz Gruber trägt behutsam ein zuckendes Bündel herein und setzt die kleine Kreatur in den Sessel am Präsidiumstisch. Die Bühne des Berliner Ensembles ist eingerichtet für eine Vollversammlung, erwartet wird »Ein Bericht für eine Akademie« von Franz Kafka.
Sofort herrscht andächtige, bewegende Stille im vollbesetzten
Auditorium. Was ist das für ein Lebewesen, das sich da vorn - große
Sonnenbrille, wuscheliger Haarschopf, winziger Rumpf - zu Wort meldet? Der glasknochenkranke,
1943 mit drei Knochenbrüchen geborene Peter Radtke ist ein Mann von gewaltiger
Energie. Er scheint Beethovens trotzigen Wahlspruch zu leben, den der sich gab,
als er erfuhr, dass er sein Gehör verlieren würde: »Ich will dem Schicksal in
den Rachen greifen, ganz niederbeugen soll es mich gewiss nicht.« Der schwerst
behinderte Radtke, Mitbegründer
des »Münchner Crüppel Cabarets«, ist Dolmetscher und Übersetzer für
Englisch, Französisch und Spanisch, studierte und promovierte in Germanistik
und Romanistik, arbeitet als Geschäftsführer und
Chefredakteur der »Arbeitsgemeinschaft Behinderte in den Medien«, initiierte Behindertenstücke auf subventionierter Bühne, schrieb und spielte eigene Stücke, übernahm Filmrollen. Jetzt holte ihn George Tabori als Darsteller zum BE.
Die Rührung angesichts dieses Menschenschicksals spielt immer mit. Und Spielleiter
Tabori nutzt diese Empfindung behutsam, modifiziert sie für Kafkas Erzählung.
Denn auch der Bericht des gewesenen Affen Rotpeter, der vor zehn Jahren, am 3.
Oktober, aus seinem »Affentum« gerissen wurde, gibt Kunde von einem Lebewesen,
das mit Willen und Energie ein böses Fatum meisterte. Dabei kann die vom
Regisseur hinzugefügte Assoziation in jüngste deutsche Geschichte kaum als
aufgesetzt empfunden werden. Wie dem Rotpeter wurde Millionen Menschen im Lande
zwar die Freiheit gegeben, aber gnadenlos die Identität genommen.
Nun sitzt er denn am Tisch und berichtet über sein äffisches Vorleben,
glücklich darüber, als Mensch angesehen zu werden, aber immer wieder ins
überwundene Naturell zurückfallend. Gegenstände, die ihn noch eben
interessierten, wirft er achtlos weg und erstaunt sich, wenn sie kaputtgehen.
Mühselig robbt er zu einer Rose auf dem Tisch, streichelt sie, rupft gedankenlos
ihre Blätter, möchte den Schaden unbeholfen beheben. Wieder und wieder greift
er zur Schnapsflache, trinkt, verzieht das Gesicht wegen des abscheulichen
Gesöffs, schaut dann aber fröhlich in die Runde und erzählt.
Er war von einer Jagd-Expedition der Firma Hagenbeck an der Goldküste
aufgegriffen und auf einem Dampfer in einen kleinen Käfig gesperrt worden.
Plötzlich hatte er nicht mehr, was er sonst immer gehabt hatte: einen Ausweg.
Allmählich lernte er menschliche Gewohnheiten, den Handschlag zu geben, zu
spucken, Pfeife zu rauchen. »Es war so leicht, die Leute nachzuahmen.« Nur mit
dem Alkohol tat er sich schwer. Als er sich einmal überwand, entschlüpfte ihm
sogar ein »Hallo!«. Pfiffig entschied er, auf jeden Eigensinn zu verzichten
und sich so zu benehmen, dass er nicht in den Zoologischen Garten gesteckt,
sondern zum Artisten ausgebildet wurde. Denn »man lernt rücksichtslos, wenn man
einen Ausweg will!« Er verbrauchte in Hamburg viele Lehrer und erreichte, was
er wollte. Das war nicht unbedingt die Freiheit, »mit der man sich unter
Menschen« ohnehin »allzu oft betrügt«, aber der »Menschenausweg«, der ihm aus
dem Käfig verhalf und auf alle großen Varietebühnen der zivilisierten Welt
führte...
Peter Radtke überzeugt als prononciert abwägender, sinnfällig gestikulierender
Sprecher. Die exotische Eigenart seines Vortrages verlieh der hellsichtigen
poetischen Botschaft Franz Kafkas, des feinsinnig-phantastischen Satirikers,
klaren Glanz und bewegenden Nachdruck. Das Publikum feierte ihn und George
Tabori an seiner Seite.
Neues Deutschland, 6. Dezember 2000