„Berlin Bertie“ von Howard Brenton in den Kammerspielen des DT, Regie Sewan Latchinian

 

 

 

Irgendeine Hoffnung muss der Mensch haben

 

Zugegeben, in die deutsche Erstaufführung des Schauspiels „Berlin Bertie" von Howard Brenton in den Kammerspielen des Deutschen Theaters kam ich skeptisch. Der Autor hatte in einer Pressekonferenz freimütig ausgeplaudert, in seine englische Sprache eingeschlossen zu sein, also kein Wort Deutsch zu verstehen. Wie sollte er dann, was auf einem Theaterzettel behauptet wird, im Februar 1990 in einer Berliner Straßenbahn gelegentlich eines unfreiwilligen Aufenthaltes von zehn Minuten eine wahre Story über die Staatssicherheit erfahren haben?

Aber, wie sich herausstellte, Produktionsgeheimnisse eines Autors sind das eine, lebendiges Spiel auf der Bühne ist das andere. Der 1942 geborene Brenton ist ohne Zweifel ein versierter Schreiber. 16 abendfüllende Stücke hat er bereits vorgelegt. 1991 verstand er, das von den Medien künstlich heißgeklopfte Thema Staatssicherheit mit dem realiter brennenden Thema Verfall der bürgerlichen Gesellschaft zu verquicken. Tendenz: Der Untergang der DDR ist ein Pappenstiel im Vergleich zu dem anhaltenden, unaufhaltsamen Desaster auf der Insel.

Eben diese desavouierende Sicht Brentons hat Regisseur Sewan Latchinian, scheint mir, ungewollt etwas verstellt, indem er DDR-Kolorit einbrachte. Zwei Bänkelsänger, ein FDJler (Michael Walke) und ein Soldat (Bernd Stempel), bieten in gläubiger Inbrunst einige menschenfreundlich-einfältige DDR-Lieder. Gemeint ist das ironisch, soll die schon berühmte DDR-Langeweile abstrafen. Unfreiwillig aber ist's ein frappierender Kontrast zum zwar abwechslungsreichen, aber inhaltsleeren Leben in der freien Welt.

Da scheißt eines Morgens der jugendliche Aussteiger Sandy (aus offenbar gutbürgerlichem Hause) auf dem Londoner Hinterhaus-Klo seiner Beischläferin Alice und hält naseweis Vorträge. Sie liegt währenddessen wie ohnmächtig im Rausche des Giftes, das sie genommen hat. Neben ihr kampiert die geschlechtskranke Joanne (Kathi Liers), eine spacke Herumtreiberin. Alice (Katrin Klein), gewesene Sozialarbeiterin, hat das Mädchen in tapferer Fürsorge unter einer Brücke aufgegriffen und mit in ihre Wohnung geschleppt.

Sandy (Kay Schulze) ist ein lieber Kerl, aber unfähig zu sinnvollem Tun. Der stramme Nationalist liefert trostlose Sprüche en gros. „Es geht ja doch alles den Bach herunter." „Keine Sau macht mehr was aus Liebe." Alice ist seit zwei Jahren suspendiert, weil sie einem schwarzen Ehepaar, das ihr zugeteilt war, moralische Besserung zugetraut hatte. Aber der Mann hatte sein Baby ermordet. Nun trägt sie - ns Abseits gestellt - an der Last der nicht wahrgenommenen Verantwortung. Und kommt selbstverständlich nicht die Spur auf die Idee, die Gesellschaft zu reformieren, gar revolutionär zu verändern. Einfach gescheitert also.

Gescheitert ist auch ihre Schwester Rosa (Margit Bendokat) in Berlin-Ost. Sie hat als Psychiaterin gearbeitet und wollte Dissidenten zum Christentum bekehren. Dabei ist sie von der Firma Horch und Guck belauscht worden. Ihr Oberhorcher, Bertie, ein Computer-Experte, sucht sie am 7. Oktober 1989 schlechten Gewissens auf (dies die Story aus der Straßenbahn!), um sich von ihr behandeln zu lassen. Sie ist vom Besuch nicht sonderlich überrascht und erklärt kategorisch, seine Stasi-Seele sei nicht wert, kuriert zu werden. Was Bertie, der geschulte Staatsdiener, natürlich glatt als eines wahren Christen unwürdig brandmarkt. Gar nicht beleidigt indessen übergibt er Rosa eine Mappe mit den Namen all der Pfarrer, die für die „Firma" gearbeitet haben. Darunter auch ihr Ehemann. Später wird er ihr sagen, daß dies eine in monatelanger Arbeit erstellte Sammlung von Dichtung und Wahrheit sei.

Nachdem in Berlin die Mauer gefallen ist, trifft man sich in Alices Londoner Wohnung. Rosa reist an, weil ihre Hoffnung gescheitert ist. Nicht ihre ehemaligen Patienten haben in Berlin die politische Macht übernommen. Was sie offenbar so verbittert, daß sie ihre christliche Gläubigkeit über Bord wirft. Auch Bertie findet sich ein. Er will sie heiraten. Er hat der Überzeugung seines Vaters Lebewohl gesagt und sich bereits in die Geschäftswelt integriert. Fachmann, der er ist, verhökert er in Polen produzierte Video-Spiele. Und es stört ihn nicht, wenn ausgesprochen faschistische Games bei sind.

Mithin: Rosa, Alice, Joanne, Sandy und nun auch Bertie, sie alle sind herrlich freie Menschen. Und was machen sie daraus? Was erlaubt die Gesellschaft? Bertie macht Geld. Sandy, begeistert von dem Typ, wird für ihn arbeiten. Und die drei Frauen - „irgendeine Hoffnung muß der Mensch haben" - träumen vom Fliegen nach Avignon...

Was der Regisseur erbarmungslos ironisch ins Bild bringt. Die Frauen entschweben mit himmlischer Lebensperspektive in den Schnürboden. Womit Realistik und Phantastik des Stückes noch einmal dick unterstrichen werden. Daß der Abend, was auch droht, nicht ins Klischee abglitt, ist dem menschenkundigen Regisseur und seinen exzellenten Schauspielern zu danken.

 

 

Neues Deutschland, 12. März 1993