„Bindung 6. Grades“ von John Guare in der Komödie am Kurfürstendamm
Berlin, Regie Martin Woelffer
Stricher verführt fast eine Dame
Ursela Monn als Louisa und Horst Schultheis als ihr Gatte, der superreiche Kunsthändler Plan Kittredge in John Guares Komödie „Bindung 6. Grades", agierten ad hoc als ein herrlich entnervtes Ehepaar. Es ist in der eigenen Wohnung in eine höchst prekäre Situation geraten. Noch eben sollte mit Millionen um Kunst (Cezanne usw.) gehandelt werden, weshalb sie den reichen Geoffrey aus Südafrika umgarnten. Und nun das!
Der 1938 geborene, in New York lebende versierte Stückeschreiber John
Guare bietet eine urst verblüffende Komödie. Er mixt philosophischen Anspruch
(„Die Phantasie. Sie ist unsere Rettung...") mit ordinärem Alltag
(„...der beste Fick meines Lebens") und arbeitet mit Rück- und Querblenden
wie im Film. Das gibt dem Fall nach allerdings umständlicher, kunstgebildet
redseliger Exposition einen flotten Drive und ein Fluidum von Hektik, wie es
zeitgenössische Filmemacher gern zum Kaschieren inhaltlicher Leere nutzen. Was
hier nicht zutrifft. Hier wird mit gewollt leichter Hand in flottem Wechsel von
Handlung und Kommentar eine nicht alltägliche Geschichte ernsthaft erzählt.
Sie handelt von der an sich normalen, aber meist verborgenen Sehnsucht zumindest
zweier Menschen nach Liebe und Geborgenheit und davon, daß die zwei wegen der
sozialen Unterschiede zueinander nicht finden können.
Der heterogene Stil der Komödie stellt die Regie vor
keine leichte Aufgabe. Regisseur Martin Woelffer bediente zwar durchaus psychologische
Feinheiten, zielte ansonsten aber -wie auch das bunte Bühnenbild Thomas Peknys
und die ebenso schrillen Kostüme Stephan Martin Dietrichs - auf burlesken
Boulevard. Die Mixtur funktioniert. Allerhand Umtriebigkeit. Pointen jagen sich.
Immer wieder frappierende Szenen. Wie etwa die knalligen Auftritte der rebellischen
jungen Generation. Die ist auf ungeahnte Weise in den Konflikt verwickelt.
Der Fall ist der: Beim „Upper-class-Ehepaar" taucht
der junge Schwarze Paul auf. Pierre Sanoussi-Bliss elegant, höflich,
sympathisch. Er behauptet, der Sohn Sidney Poitiers zu sein, des berühmten schwarzen
US-Schauspielers, und überdies ein Studienkollege der an der Harvard-Universität
studierenden Kinder des Paares. Da er den überkandidelten Herrschaften Komparsen-Rollen
in Vaters „Cats"-Verfilmung verspricht und sich außerdem auch noch als
Koch beliebt macht, sind sie Feuer und Flamme und bieten dem Unbekannten an,
bei ihnen zu übernachten. Was ungeahnte Folgen hat. Paul entpuppt sich als
Strichjunge. Unerwartet hüpft seine nächtliche Bekanntschaft splitternackt in
der Wohnung herum. Natürlich geraten die Kittredges außer sich.
Vergleicht man die Aufführung mit den Programmheft-Fotos
(der nackte Paul unter Louisas zärtlicher Obhut), gewinnt man den Eindruck,
daß die Macher im letzten Moment vor der eigenen Courage
zurückgeschreckt sind. War der Autor etwa frivoler, als letztlich am
Kurfürstendamm genehm? Immerhin wird erzählt: Louisa, die seelisch arme Reiche,
und Paul, der seelisch reiche Arme, fühlen sich auf geheimnisvolle Weise
angezogen. Nämlich um sechs Ecken, was der Autor Bindung 6. Grades nennt! Paul kämpft
offenbar um ein Zuhause und um Streicheleinheiten eines Weibes. Die verheiratete
Frau hinwiederum lebt ohne Liebe am Reichtum entlang, ist also anfällig für
einfühlsame Zuwendung. Obwohl sie zu helfen versucht, landet ihr Paul im
Kittchen. So ist das halt mit den Bindungen in der freiesten aller Welten....
Neues
Deutschland, 30. November 1994