„Boris Godunow“ von Alexander Puschkin in der Volksbühne Berlin, Regie Gero Troike

 

 

 

 

Macht in den Händen von Verführern

 

Am Anfang blendet ein Schein­werfer das Publikum. Er strahlt zwei Dekorationsteile an und hüllt Günter Zschäckel und Bodo Krämer, die die Für­sten Schuiskij und Worotynskij sprechen, völlig ins Dunkle. Auch danach gestattet Regis­seur Gero Troike an diesem Abend in der Berliner Volks­bühne kaum bessere Sicht auf Alexander Puschkins „Boris Godunow". Ich dachte, irgend­wann muß er sich doch erin­nert haben, daß der russische Dichter ein Hörspiel nicht geschrieben hatte. Aber ich wur­de enttäuscht. Die Szene blieb meist mehr oder weniger un­zulänglich ausgeleuchtet.

Gewiß, ich begriff: Bühnen­bildnerin Bettina Weller wollte, daß bei diesem Werk über Zar Boris und den Mönch Grigorij Otrepjew finsteres und fernes Rußland assoziiert wird. Schließlich geschah, daß der „falsche Dimitrij" sich mit Lüge und Waffengewalt auf den Thron mogelte, vor langer Zeit, nämlich in der Wende zum 17. Jahrhundert. Für das historische Spiel sollte eine poetische Atmosphäre entstehen. Aber wenn das auf Kosten der Kom­munikation geht, ist's ver­drießlich. Zumal die Schau­spieler sprecherisch hätten zulegen können.

Insofern ist der Griff zu ei­nem anspruchsvollen klassi­schen Vers-Drama außerordentlich wichtig für die Ent­wicklung des neu formierten Ensembles. Zwar ist erfreulich zu vermerken, daß nicht etwa sprachliche Form sich vor­ drängte, sondern Inhalte do­minierten. Aber nicht alle Dar­steller wußten die überwie­gend darlegenden Dialoge Puschkins ausdrucksvoll abzu­stufen. Hendrik Arnst bei­spielsweise, ein guter Sprecher
eigentlich, der den Zaren als glatzköpfigen, etwas behäbi­gen Herrscher vorzeigte, verschenkte wichtige Sentenzen. Der Vers drängte ihn zuweilen zu aufsagender Eile, wo das Entstehen des Gedankens zum Erlebnis hätte werden kön­nen.

Das ist ja das Erstaunliche. Dies Werk aus dem Jahre 1825, bekannt eher als Oper von Modest Mussorgski (als „Ur-Boris" 1870 fertig), ist be­stürzend aktuell. Die Manipulierbarkeit der Völker, die der Dichter entdeckte und gestal­tete, ist nicht etwa aus der Welt. Skrupellos Machthungri­ge wissen auch heute nur zu gut damit umzugehen.

Gero Troike hat indessen nicht simpel und vordergrün­dig aktualisiert. Er gibt den Puschkin (in der Übersetzung von Henry von Heiseler aus dem Jahre 1911) im Detail naturalistisch und im übrigen karg in einer epischen Abfolge, die an Brecht erinnert. Das bringt Authentizität ein, auch Originalität. Zuweilen versucht er, die Handlung zu symbolischen Bildern zu verdichten. Das wirkt überanstrengt. Auch ist der Regisseur zu umständ­lich beim Zusammenfügen sei­ner Inszenierung. Meist be­nutzt er pro Bild nur ein, zwei markante Dekorationsteile. Aber den an sich simplen Um­bau zu einem eigenständigen Ritual zu machen, dehnt den Abend unnötig. Einzelne Sze­nen sind von schöner Beredsamkeit. Dank vor allem des trefflichen Spiels von Peter Re­ne Lüdicke als Dimitrij. In Krakau, wenn er ihm ergebene Russen und Polen kennenlernt, führt er den Betrüger als tak­tierenden Scharlatan vor, gibt er ihm die marionettenhafte Skurrilität eines russischen Pinoccio. Im Schloßgarten des Wojewoden Mnischek, wenn er um Marina wirbt, die Meral Yüzgülec überzeugend kreiert, ist sein Dimitrij ein rechter Grünling. Und wenn er sein Pferd verliert, greint er dar­über mehr als über die Toten einer verlorenen Schlacht.

Einige Darsteller prägen sich ein. Winfried Wagner als alter Mönch Pimen, Klaus Mertens als Patriarch von Moskau, Ha­rald Warmbrunn als Basmanow, Bruno Chathomas als Puschkin, Uwe Steinbruch als Mnischek. Das Ensemble kommt mit der für die Volks­bühne konventionellen Spiel­weise gut zurecht. Schade, daß Äußerlichkeiten einen Erfolg verhinderten. Der Beifall freundlich, aber müde und kurz.

 

 

Neues Deutschland, 14. September 1994