Brecht-Abend von Manfred Karge im Berliner Ensemble

 

 

 

Herrenmode und andere Katastrophen

 

Auf einer Fotomontage des Programmzettels hat ein nicht genannt sein wollender Spaßvogel dem Bertolt Brecht einen mächtigen Schnauzbart verpaßt. Aber es irrte, wer glaubte, der Brecht-Abend im Berliner Ensemble habe sooo einen Bart! Im Gegenteil. Obwohl unter dem Titel „Über die Herrenmode und andere Katastrophen" auch gut bekannte Gedichte und Songs geboten werden, scheinen sie allesamt neu, wie ausdrücklich für jetzt und hier geschrieben. Das liegt an Manfred Karge, der die Auswahl zusammenstellte, Regie führte und selbst mit auftrat. Das liegt vor allem an Bertolt Brecht, dem großen Realisten, der einfach recht hat, der Grundsätzliches und Beiläufiges klug zu sagen weiß, wie auch immer die Zeiten beschaffen sein mögen.

Die Kenner kommen also auf ihre Kosten. Sie erleben nicht nur den Dichter etwa der Hauspostille und der Augsburger Sonette, sondern auch den der „Tage der Commune" und der „Mutter Courage". Und jene Besucher, die von Brecht bislang nur wissen, daß er nach der Rückkehr aus der Emigration nach Ostberlin gegangen ist, werden freundlich darüber informiert, wie universell und mit welch geistiger Vitalität dieser poetische Sachwalter der Ausgebeuteten über die Menschen und über die Gesellschaft nachzudenken und zu schreiben wußte.

Wobei Manfred Karge den Abend weder als penibler Chronist noch als ehrfürchtiger Huldiger disponierte, sondern - aus der Fülle des Werkes schöpfend - als Zeitzeuge. Mit prononciertem Auftakt. „Von der Sintflut" singt Karge, davon, daß er sich ihr eventuell verweigert. Und er warnt, singt „Gegen Verführung": Laßt euch nicht betrügen! Laßt euch nicht vertrösten! Weit gespannt dann der thematische Bogen. Die Macht des Geldes wird besungen, über den Wechsel der Zeiten meditiert, das Scheitern sozialer Experimente erkundet, über die Ohnmacht der Kunst und der Künstler nachgedacht, die Kälte der Städte beklagt.

Erkenntnisse, Mahnungen, Erfahrungen, Hoffnungen, Zweifel. Die Szene dafür entwarf der Regisseur selbst: eine Spielscheibe, noch vor das Portal in den Zuschauerraum gebaut. Auf zwei unterschiedlich großen Projektionsflächen (Projektionen Dieter Klaß) erscheinen die Titel der Texte, daneben - als Kommentare - wie von Kinderhand hingeworfene Strichmännchen. Karge entschied auch das Kostüm. Für sich wie für die Spieler wählte er gutbürgerliche Anzüge. Doch ließ er barfüßig auftreten, die Füße freilich nicht nackt und bloß, sondern bunt gefärbt. Er selbst in rot, Eva Mattes blau, Veit Schubert gelb und die jungen Mitspieler grün. Wunderlicher Einfall, gewiß. Aber Karge verfremdet damit die Auftritte, nimmt ihnen den Aspekt unmittelbarer Agitation, auch das Didaktische, und betont das Naive, das Spielerische.

Hervorragend beteiligt am Erfolg des Abends ist am Flügel Karl-Heinz Nehring, exzellenter Interpret von Eisler und Dessau. Er bringt sozusagen das originale musikalische Flair ein, die klare gestische Diktion der Lieder. Auch bei Komponisten wie Eckard Koltermann und Alfons Nowacki. Als Pianist ist er den Schauspieler-Sängern ein einfühlsamer und zu bemerkenswerten Leistungen führender Partner.

Eva Mattes brilliert mit dem „Lied von der großen Kapitulation" (Musik Paul Dessau), ruft Erinnerungen an die herbe Helene Weigel wach, überzeugt aber mit eigenem Ausdruck. Sie hat Härte und Milde, scharfe Ironie und anrührende Menschlichkeit. Die Mattes mit diesem Lied vorzustellen, provoziertg geradezu .die Frage: Wann wird sie als Mütter Courage im BE zu erleben sein? Wenn sie „0 Falladah, die du hangest" (Musik Hanns Eisler) singt, wobei Karge als Moritaten-Sänger assistiert, ist sie auch da von einprägsamer Gestaltungskraft.

Der Regisseur, insgesamt gut aufgelegt, bietet einige Texte mit freundlich-bissigem Sarkasmus, etwa die „Parade des alten Neuen" oder das „Lied der preiswerten Lyriker". Veit Schubert zitiert scharf-pointiert August Bebel vor dem preußischen Landtag und gibt mit hintergründigem Schalk die „Querulanterei oder ein Lauf gegen die Wand". Den erfahrenen Protagonisten nicht nach steht der Nachwuchs: Anke Schüler, Eva Brunner, Thomas Ostermeier und Christian von Treskow gefallen mit diversen Beiträgen.

Brecht authentisch - an diesem Abend im Berliner Ensemble.

 

 

Neues Deutschland, 14./15. Oktober 1995