„Britannicus“ von Jean Racine am
Schiller-Theater Berlin, Regie Wolfgang Engel
Wie Herrscher ins Verbrechen schlittern
Was bewog Wolfgang Engel, den langjährigen Chefregisseur des Staatstheaters Dresden, am Berliner Schiller Theater Jean Racines (1639-1699) Drama „Britannicus" zu inszenieren? Wollte er ein Gipfelwerk des französischen Klassizismus naturalistisch „verfremden"? Wollte er uns die Seelenqualen eines angehenden Tyrannen psychologisch feinfühlig kundmachen? Mir scheint, er wollte vor allem Sylvester Groth, seinen Stardarsteller aus Dresden, in einer Hauptrolle vorführen. Womit er gut tat.
Hoch sensibilisierte Schauspieler
sind rar auf Berliner Bühnen. Gerade hat sich Ulrich Mühe aus dem Vertrag mit
dem Deutschen Theater verabschiedet, um beim Film sein Glück zu machen - eine
kluge Entscheidung war das wohl nicht. Vielleicht bleibt Udo Samel der
Schaubühne treu, und Götz Schubert dem Maxim Gorki Theater.
Sylvester
Groth also. Er macht den Abend möglich. Er schafft die
Meisterleistung, dem Racine, diesem süperben Dichter melodischer, dynamischer
und rhythmischer Sprache (in der Übertragung von Simon Werle), mit gestisch beredtem
Spiel beizukommen. Und zugleich sprecherisch zu überzeugen.
Groth gibt Kaiser Nero. Das ist der Sohn
Agrippinas. Er vergöttert Junia, die Geliebte seines Bruders Britannicus. Und
er setzt seine Macht ein, den Nebenbuhler loszuwerden. Weswegen er sich erst
einmal von der Mutter abnabeln muß. Was nicht so einfach ist. Schließlich hat
ein klassizistischer Held, der vor König Ludwig XIV. bestehen mußte, erst
einmal eine gemäße Moral. Tugend hin, Gemeinheit her. Racine hat, wie er
bekennt, Nero immer für ein Ungeheuer gehalten. Doch hier - in diesem Stück -
hat der Schuft Rom noch nicht in Brand gesetzt, hat er seine Mutter, seine Frau
und seine Erzieher noch nicht getötet. Hier ist er ein Tyrann noch in den
Windeln sozusagen.
Die widersprüchliche Figur produziert
Sylvester Groth aus der Ruhe und mit faszinierender Körpersprache. Er tritt
auf, verharrt, scheint fast ungehalten darüber, in Junia verliebt zu sein. Er
lacht amüsiert über seine Schwäche. Er ist überhaupt uneins mit sich, hat nicht
die Haltung eines leidenschaftlich verliebten selbstbewußten Kaisers, sondern
die eines introvertierten Weichlings. Der Mann soll gefährlich sein?
Das läßt schon aufmerken: Dieser Nero
schlittert ins Verbrechen wie ein unschuldiger Gott. Wenn er Junia zwingt, Britannicus
zu verstoßen, macht er das wie nebenbei. Wenn er das Liebespaar als Voyeur
bespitzelt, tut er das wie ein naiver Junge. Als ihn -in großer Szene übrigens
- seine Mutter noch einmal schwach redet, noch einmal an die Rockschöße zwingt,
läßt er sich Zeit, schockiert er Agrippina mit Wein, den sie für Gift hält
(eine Regie-Pointe von delikater Würze). Dann mogelt er sich um den Tisch,
zentimeterweise, sucht Geborgenheit und Nachsicht im mütterlichen Schoß. Dabei
erzählt Groth zugleich, daß dieser Kniefall Neros dessen letzter war.
Keine Versöhnung mit Britannicus. Nero
vergiftet ihn. Panik im Palast (von Marcel Keller und Caroline Neven du Mont in
der Art des Giuseppe Galli-Bibiena großräumig in den Hintergrund gebaut, als Durchblick,
im Vordergrund ein samtener schwarzer Irrgarten). Berichte vom eskalierenden
grausamen Geschehen. Maria Hartmann als Albina, Agrippinas Vertraute, hat das Wort.
Dann öffnet sich ein Portal. Masken in festlichen Gewändern defilieren durch den
Saal. Man ist zur Tagesordnung übergegangen im Reiche Neros.
Leider hat der Regisseur nicht alle
Darsteller auf seine Spielweise einschwören können. Jürgen Eibers als Britannicus
wirkt neben Groth geradezu hölzern. Er steht meist elegant und spricht einigermaßen
schön. Wiebke Frost sollte der Junia wahrscheinlich eine gewisse Burschikosität
verleihen. Aber mit ihren fahrigen Gesten zerstört sie jeden Ansatz zu einer
Figur. Immerhin vermag sie den Boten effektvoll grimmig anzuspringen, der die
Nachricht vom Tode ihres Geliebten überbringt. Herbert Rhom als Narcissus und
Ulrich Noethen als Burrus ziehen sich achtbar aus der Affäre.
Katja Paryla als Agrippina - anfangs, an der
Rampe hockend, schlecht ins Spiel gebracht -, hat ihren differenziert geführten
Auftritt, als sie ihrem Sohn Vertrauens- und redselig offenbart, mit welchen
brutalen Mitteln sie ihn an die Macht gebracht hat. Bei welcher Gelegenheit
Nero gut zuhört. Es ist die Handschrift seiner Mutter, die er als Gewaltherrscher
schreibt... Womit erhellt, daß Wolfgang Engel natürlich mehr als nur einen
Schauspieler prononciert vorstellen wollte. Sein Drama heißt „Nero".
Neues
Deutschland, 3. Februar 1993