„Don Carlos“ von Friedrich Schiller am Schiller Theater Berlin, Regie Leander Haußmann

 

 

 

Lang, aber nie langweilig

 

Ein Irrlicht geistert über die offene, nachtdunkle Bühne. Die Türen im Zu­schauerraum werden laut zu­geschlagen. Eine drängende, aufpeitschende Musik (Rio Reiser) in spanischem Kolorit erklingt. Schneesturm. Mor­gengrauen. Auf der rotieren­den Drehscheibe schiebt sich eine Truppe von Gauklern voran. In ihrer Mitte Marquis von Posa, der nach Aranjuez kommt, der Frühlingsresidenz des spanischen Königs. Eine Schloßkulisse senkt sich aus dem Schnürboden. Die Musik reißt noch immer emotional hoch, bricht plötzlich ab. Er­ster Beifall. Das Publikum ist animiert.

Leander Haußmann, der derzeitige Hoffnungsträger des Berliner Schiller Theaters, hatte sich mit noch immer stürmendem und drängendem Theaterblut in einer Anwand­lung von Hybris entschlossen, Schillers „Don Carlos" und Goethes „Egmont" zu kombi­nieren. Am Vorabend der Pre­miere aber ließ er - auch das faszinierend theaterblutig - sein Vorhaben sausen. Und zur Premiere bot er einen noch immer viereinhalbstündigen „Carlos", der sich sehen lassen kann.

Die kostbare Leidenschaft des jungen Regisseurs, sein Vermögen, Fabeln per locke­rem Spiel beredt zu machen, sein Gespür für szenische Wir­kungen, sein Empfinden für Spannung des Dialogs treffen glücklich zusammen mit der ideellen Geisteskraft des Dichters. Gegeben wird ele­mentar das dramatische Ge­dicht. Keinem schwellenden Vers wird ausgewichen, große Emotionen werden nicht ge­scheut, und zugleich und überschaubar wird die tragi­sche Geschichte des Infanten von Spanien erzählt: als Poe­sie, als eine phantastische Er­findung des Theaters.

Die Bühne des Schiller Theaters umrahmt ein weites, holzgetäfeltes Portal. Würde. Distanz. Etikette. Auf der Drehscheibe arbeitet Bühnen­bildner Bernhard Kleber mit stimmig gemalten Soffitten, Versatzstücken und Gazevor­hängen. Nie helle spanische Sonne, stets Zwielicht des spanischen Hofes. Atmosphä­re. Fluidum. Flair.

In diese Kulisse inszenierte Haußmann weiträumig, im­mer wieder auch den Zuschauerraum einbeziehend. Er nimmt den Dichter beim Wort, geht dessen Gedanken nach, verbiegt nichts, verfremdet nichts (was einige Zuschauer nicht kapieren und daher verlachen, was ernst gemeint ist) und führt seine junge Truppe an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit.

Der noch in Weimar manch­mal wie verklemmt wirkende Dirk Nocker ist hier einfach ein glänzender Kronprinz. Der Schauspieler hat den Mut und die Kraft zur Theaterleiden­schaft, ohne sich von ihr davonreißen zu lassen. Im Ge­genteil. Er läßt, in Momenten der Entspannung, immer wie­der den schlaksigen Jungen durchblicken. Mit Nocker kommt ein romantischer Held auf die Szene, wie er besser für den traumwandlerischen Car­los so schnell nicht zu finden sein wird. Mit ihm erlebt man die schöne, feurige, wenn­gleich illusionäre Hoffnung der Jugend, ihr Jahrhundert in die Schranken fordern zu kön­nen. Mit ihm erlebt man die ir­rende, heiße Liebe zur Köni­gin (von Steffi Kühnert frap­pierend differenziert verkör­pert), und den scheiternden Versuch, den Vater umzustim­men und zu versöhnen.

Philipp II. ist bei Ezard Haußmann ein seelisch ver­härteter Regent, der sich im­merhin den alternativen Ge­danken anderer, auch seines Sohnes, nicht verschließt, so­gar deutlich ins Nachsinnen gerät, dann doch staatsdoktri­när den Sohn dem Großinqui­sitor (Erich Schellow) auslie­fert.

Der Marquis von Posa von Martin Olbertz ist vielleicht ein wenig zu weichmütig, zu verspielt, zu ähnlich dem Car­los. Wenn er den Kniefall pro­biert, der vor dem König zu machen sein wird und der ihm nicht liegt, bringt er das aller­dings mit ironischem Selbstbewußtsein, das der Figur auch sonst gut ansteht.

Die Regie holt die Treffen zwischen Vater und Sohn so­wie zwischen König und Posa vorn an die Rampe, macht sie zu großen, sehr intimen Sze­nen nicht des kalten Staatsgeschäfts, sondern warmherzi­ger menschlicher Begegnung. Die Konfrontation der Welt­sichten entsteht sehr unmit­telbar und berührt.

Dergestalt gelingen Haußmann immer wieder theatralisch überzeugende Szenen: wenn Carlos und Alba (Ralf Dittrich prononciert ein knor­riger Vasall) in wilder Ausein­andersetzung gegeneinander geraten, wenn Carlos und Prinzessin von Eboli (Susanne Böwe) zwischen Liebe und Haß taumeln.

Der Regisseur ergänzt die Verse gern mit naturalisti­schen Füllseln. Das hat Vorzü­ge, bringt Realität ein, ver­knüpft das Reich reiner Poesie ständig mit der rauen Natur. Das hat aber auch den Nach­teil, daß die Inszenierung an den Rändern aus den Fugen gerät. Da ist im Exzentrischen gewisse Disziplinierung mög­lich, wenngleich nicht zwin­gend nötig. Daß beispielsweise die flandrische Schauspieler­bande immer wieder auf­taucht, auch als Agitatoren­trupp agiert und ausgerechnet an Philipps Hof „Egmont" spielen will, ist nicht ohne be­sonderen artifiziellen Reiz.

Der Abend ist lang, aber nie langweilig. Sehr herzlicher Beifall. Ein einsames Buh.

 

 

Neues Deutschland, 5. Mai 1953