„Litauische Claviere“ von Paul Gratzik im theater 89 Berlin, Regie Hans-Joachim Frank

 

 

 

Zwei Romane – ein Stück

 

Das theater 89 in Berlin wagt sich, tollkühn wie mir scheint, an ein literarisch anspruchsvolles, personenreiches Stück. Während hinlänglich subventionierte Bühnen an Spielplänen basteln, die sich marktwirtschaftlich rechnen, also Ausschau halten nach lukrativen Ein-Zwei-Personen-Dramen, stürzt man sich am theater 89 in die aufwendige Uraufführung der »Litauischen Claviere« von Paul Gratzik, einer umfänglichen Folge von »Szenen am Memeldurchbruch bei Ragnit«.

Wie ist das zu leisten? Höchstwahrscheinlich wird am theater 89 bescheiden honoriert. Andererseits kann substantiell produktive künstlerische Arbeit Schauspieler veranlassen, finanzielle Einbußen in Kauf zu nehmen. Denn das steht fest und dürfte sich herumgesprochen haben: Am theater 89 wird unter Leitung und Regie von Hans-Joachim Frank eine psychologisch feinsinnige, sozial konkrete Schauspielkultur gepflegt, wie sie heute in Berlin nur noch selten anzutreffen ist. Das hängt wesentlich mit dem Spielplan zusammen. Unter Dramaturg Jörg Mihan jagt man nicht dem bürgerlichen Feuilleton genehmen Sensationen nach. Vielmehr interessiert, welche politischen Höhen und Tiefen der kleine Mann unter seinen großen deutschen Führern in verflossenen Jahrzehnten zu kompensieren hatte. Dabei nimmt man sich viel Zeit für den Menschen. Man begegnet ihm aufmerksam, freundlich und mit Geduld.

Ich gestehe, daß ich diesmal Bedenken habe. Wenn Gratziks Bearbeitung zweier Romane von Johannes Bobrowski einen Achtungserfolg erzielte, dann nur, weil es Hans-Joachim Frank verstand, den durchgängig rekapitulierenden Gestus des Textes spielerisch phantasievoll zu aktivieren. Seine menschenbildnerische Fähigkeit macht selbst aus der kleinsten Rolle einen sehenswerten Auftritt. Simone Frost als Oma Wendehold. Eberhard Kirchberg als Zigeunercirkus-Direktor Scarletto. Auch mit dem Ensemble gelingen dem Regisseur in der immer wieder geschickt ausgenutzten Tiefe der Mini-Bühne Szenen von schöner Ausstrahlung. Liebevolle Heimatbilder, verhalten deftige Sittenbilder aus dem ehemals deutschen Memelland, dort, wo Deutsche, Litauer, Polen, Russen, Zigeuner und Juden einst friedlich zusammenzuleben schienen. Wenn gesungen wird (Musik Bert Wrede), durchdringen sich Melancholie und Frohsinn, Langmut und Trotz.

Einprägsame Episoden. Die Eisenbahn-Fahrt durch Tilsiter Land mit dem Streit zwischen Konzertmeister Gawehn (Achim Wolff) und Herrn Winkler (Johannes Achtelik). Die muntere Kaffeetafel, bei der Pfarrer Glinski (Siegfried Meyer) Geld zugesteckt bekommt. Der Fememord an Josupeit (Thomas Pötzsch) mit Quittung gleich am Tatort. Schullehrer Potschka (Eberhard Kirchberg) mit der Dorfschönen Tuta (Maria Brendel) im Stroh. Josepha (Gabriele Heinz), die Frau des Baptistenpredigers Feller (Achim Wolff), ersäuft ihren Kummer in Alkohol und lädt Lehrer Willuhn (Bernhard Geffke) zum Trunk. Christina (Heike Jonka), die Frau des Mühlenbesitzers Johann (Johannes Achtelik), und Josepha beköstigen den Musikanten Habedank (Jürgen Kurz). Josepha ertränkt sich. Genre-Szenen, milieugenau hingetupft wie holländische Miniaturen.

Aber die Fabel! Paul Gratzik hat Vorgänge aus dem Roman »Levins Mühle, 34 Sätze über meinen Großvater«, der 1874 im westpreußischen Kühner Land angesiedelt ist, in Handlungen aus dem Roman »Litauische Claviere« gefügt, der 1936 im Memelland spielt. Impressionen. Impressionen. Wer nicht beide Romane gelesen hat, wird sich im historischen Hin und Her schwerlich zurechtfinden. Zumal der Regisseur nicht klar hat schaubar machen können, wie die Vertreibung eines jüdischen Konkurrenten durch einen deutschen Bauern in Gratziks Stück als Amateur-Aufführung gezeigt wird. Dennoch teilt sich Wesentliches mit. Von Gewalt, Menschenjagd und Fememord 1936 im ehemaligen Ost- und Westpreußen zu berichten, erinnert daran, daß von der Obrigkeit geförderte nationalistische Verhetzung gegen Andersdenkende und -handelnde in Deutschland so neu nicht ist.

 

 

Neues Deutschland, 28. Februar 1997