„Clavigo“ von Goethe am Schiller-Theater Berlin, Regie Leander Haußmann

 

 

 

 

Verunglückte Liebe eines Jammerlappens

 

Das Trauerspiel „Clavigo", das der 25jährige Goethe 1774 unbekümmert in einer Woche niederschrieb, setzte der junge Leander Haußmann jetzt am Berliner Schiller-Theater zwar durchaus jugendlich frisch, doch dezidiert in Szene. Keine saloppe Verballhornung des Dichters, eher eine liebevolle Rechtfertigung dessen exaltierter Leidenschaftlichkeit, zwar verspielt und an den Rändern gewissermaßen sich verzettelnd, doch insgesamt von bemerkenswertem Wirkungsbewußtsein. Der Regisseur weiß den Altersgenossen verblüffend wörtlich zu nehmen, szenische Spannung aufzubauen und die Bühne immer in Bewegung zu halten. Pausenlos bis zum tragischen Ende.

Das Ende fächert Haußmann auf, serviert es als seine Deutung der Liebe zwischen dem ehemals provokanten Schriftsteller Clavigo, nun Archivarius des Königs, und der in Madrid lebenden Französin Marie Beaumarchais. Da wird nicht einfach bombastisch gestorben. Da wird erzählt, daß sich der Fall solch verunglückter Liebe schicksalhaft und allenthalben wiederholen könnte.

Welcher Liebe? Der eines unentschlossenen, dickleibigen Melancholikers, eines rechten Jammerlappens. Für die Liebe zu einem Weib ist er zu profillos, für einen abenteuerlichen Lebenswandel, wie ihn Freund Carlos empfiehlt, ist er zu phlegmatisch. Auch stehen ihm seine moralischen Kategorien im Wege. Oliver Stern trifft diesen Typ eines verkrachten Schreibers gut.

Welcher Liebe? Der eines überkandidelten Frauenzimmers, das die Liebe zu dem einen und einzigen Mann für das Leben hält. Steffi Kühnert als Marie bricht diese unbedingte, ja manische Einseitigkeit mit ihrem herrlichen darstellerischen Vermögen, Figuren sehr differenziert und konkret zu prägen und gleichzeitig ironisch zu kontern.

Dies ist übrigens auch das besondere Talent des Regisseurs. Er phantasiert schier unerschöpflich und originär in plastischen Bildern. Er stiftet damit nicht nur ein beredtes, gestisches Spiel mit diesem schwülstigen, gewiß geschickt eingestrichenen Text. Er weiß die Äußerungen und Repliken des Dichters ihres literarischen Höhenfluges zu entkleiden und sie auf ihren irdischen Gebrauchswert zu reduzieren. Wonach sie durchaus nicht nackt und bloß erscheinen, vielmehr ihre komischen, ja grotesken Seiten offenbaren.

Ein unterhaltsamer Abend also, mit Feuerwerk und Pistolenschüssen, mit Tanzeinlagen und Pantomime. Den Carlos macht Matthias Brenner als einen biegsamen, trockenen Realisten von breitbeiniger Erdhaftigkeit, den Beaumarchais Gerald Fiedler als edlen, selbstbewußten Rächer. Katja Paryla ist eine schrullige Sophie Guilbert. Den Guilbert gibt Stephan Baumecker, den Buenco Dirk Nocker.

Der eigentliche Akzent des Abends: Nicht überkommene Lesarten bedient der Regisseur, erloschene Leidenschaft etwa und Unbeständigkeit des Gefühls als Motiv für Clavigos erbärmliche Untätigkeit. Haußmann lotet tiefer, sucht im sozialen Umfeld. Gleich nebenan, man braucht nur ein Türl aufzustoßen in Bernhard Klebers poetischem Spielkasten, rattern tosend die Maschinen einer Druckerei. Aber sie stimulieren Clavigo nicht. Der sucht die Öffentlichkeit nicht mehr. Und sich selbst findet er auch nicht mehr. Zu deuten als bissigen Hinweis der Regie auf gegenwärtige Befindlichkeit deutscher Autorenschaft. Das kann die Bühne, das soll die Bühne.

Wie üblich im Schiller-Theater mischten sich Bravo- und Buhrufe. Aber der Beifall dominierte.

 

 

 

Neues Deutschland, 7. September 1992