„Mutter Courage und ihre Kinder“ von Bertolt Brecht am Staatstheater Dresden, Regie Hannes Fischer

 

 

 

 

 

Überliefert ist Brechts Abneigung gegen eine falsche Nase des Feld­predigers. Er entdeckte sie beim Studium des Modells, als er 1951 daranging, die »Courage« neu zu inszenieren. Er miß­traute seinem eigenen Einfall aus dem Jahre 1949. Sich Brechts Modellauffas­sung zu erinnern, macht einmal mehr bewußt, daß Modelle schöpferische An­strengung und eigene Auseinanderset­zung mit einem Stück nicht ersetzen, sondern herausfordern.

Regisseur Hannes Fischer ist kein Neuling im Umgang mit Brecht. Er war 1949 der Schweizerkas der Aufführung im Deutschen Theater in Berlin. Und er hat als Schauspieler wie als Regisseur gro­ßen Anteil an der Pflege des Brechtschen Erbes am Staatstheater Dresden. Wenn er sich der »Courage« zuwendet, würde er, so war zu hoffen, dieses Stück aus heutiger Sicht neu zu erschließen ver­suchen.

Neu ist der Rahmen, in den er es von Bühnenbildner Manfred Grund stellen läßt. Über dem Bühnenportal sind Tafeln montiert mit den Länder- und Ortsnamen, den Stationen der Marketenderin Anna Fierling auf ihrem Wege durch den Dreißigjährigen Krieg. Die Tafeln sind mit Glühlampen bestückt, die in schnellem Wechsel aufflammen wie ein Lotterie-Spiel. Die Illumination ist so vorder­gründig gegenwärtig, daß man sich unversehens in Überlegungen verwickelt sieht, wie das wohl gemeint sein mag. Schließlich stünde solch Rummelplatz­dekor der »Dreigroschenoper« eher an als der »Courage«. Nur eine launige Drapierung der Songs nach Paul Dessaus Musik? Oder ästhetische Absicht? Das zuckende Licht springt über Länder und Städte, gleichsam wie der Zufall im Krieg die Menschen von Ort zu Ort verschlägt. Schließlich assoziiert man Ausweglosig­keit der ins Kriegsgeschehen ver­wickelten kleinen Leute, den Krieg als Glücksspiel, in dem der Zufall regiert. Erbarmungsloses Hin und Her als un­abwendbarer, fester und zeitlos ewiger Rahmen menschlichen Schicksals in einem großen Krieg. Eine Heraus­forderung also? Ein Denkanstoß, immer wieder mit seinem Urteil zwischen das Geschehen zu kommen?

Wahrscheinlich soll die Geschichte auf der Bühne gegen diesen Rahmen gesetzt, soll ein Gegensatz sinnfällig werden: Scheinbar ähneln die Weltläufte einem stetig gleichen Rummel, in Wirklichkeit aber gebiert selbst der Dreißigjährige Krieg in harten sozialen Auseinanderset­zungen Möglichkeiten der Veränderung, Einsichten in Zusammenhänge des ge­sellschaftlichen Lebens. Liefert das Stück dafür Material?

Bekannt ist der Disput Brechts mit Friedrich Wolf und Brechts Auffassung, daß nicht die Courage, sondern das Publikum lernen solle. Das erklärte Brecht 1949 zu einem 1938 geschriebenen Stück. Damals stand gezieltes Erkenntnis­gewinnen des Publikums speziell mit der »Courage« historisch notwendig auf der Tagesordnung. Mittlerweile haben wir gelernt, was wir da lernen sollten. Und wir haben auch gelernt, daß die Rezep­tion eines klassischen Werkes not­wendigerweise Wandlungen unterwor­fen ist.

Schließlich muß die Courage nicht ewig als eine Frau gespielt werden, die aktiv und freiwillig am Krieg teilnimmt. Da verliert eine Mutter ein Kind nach dem anderen und sucht dennoch — wie es scheint verbohrt uneinsichtig und mit fatalistischer Starrköpfigkeit — immer wieder, ins kleine Geschäft am Krieg zu kommen. Kleinbürgerliche Beschränkt­heit? Nicht eher und vor allem erbittertes Ringen ums nackte Überleben? Ist das Handeltreiben und Schnittmachenwollen der Courage nicht in erster Linie ein historisch mögliches und brauchbares Mittel, um überhaupt lebend und nicht prostituiert durch diesen Krieg zu kommen? Wenn M. Sacharow im Moskauer Theater der Satire historische Relationen einbringend den erbärmlichen Kram­laden der Courage vor eine alles be­herrschende mittelalterliche Festung stellt, dann gibt er damit eine längst fällige gerechte Bewertung der »Ge­schäfte« der Courage. Sie hat sich in den Schutz der Festung begeben, ein bißchen Sicherheit, ein bißchen Geborgenheit gesucht. Sie will überleben, das ist das einzige, das sie gegen die Mächtigen in der Festung tun kann.

Eine neue Sicht also? Ein neuer Zugang zum Stück? Brecht selbst hat da einiges vorgegeben. Seine Fierling ist von außer­gewöhnlich scharfem Verstand, keines­wegs auf den Kopf gefallen und mundfaul noch weit weniger. Ihr Einfallsreichtum, schließlich wenigstens die Kattrin zu retten, und ihr Verzicht auf Utrecht, bestätigen ihre Starrköpfigkeit, überleben zu wollen, ohne humanistische Positionen aufzugeben. Ihre Kattrin läßt sie nicht im Stich. Nicht um diesen Preis. Tragisch, daß dennoch aller Kampf vergebens ist. Hier wäre heute Identifikation des Publi­kums mit diesem Geschöpf möglich, mit einer Mutter, deren erbittertem Ringen um Lebensverwirklichung eine grausame Zeit grausame Grenzen setzte.

Wenn freilich eine geistig genügsame Courage agiert, die unfreiwillig signali­siert, diese Frau würde selbst heute in einen großen Krieg ziehen, um unver­drossen ihr kleines Geschäft zu machen, dann, will mir scheinen, wird das Modell zum Dogma. Und dann drängt sich der seinerzeit zum zentralen Anliegen hoch­debattierte didaktische Aspekt wieder in die Erinnerung.

Es ist gut, daß Hannes Fischer mit seinem Bekenntnis zur »Mutter Courage« zugleich die Mär vom angeblich über­holten Didaktiker Brecht attackieren hilft. Leider stößt er dabei inszenatorisch nicht konsequent bis zu jener neuen Sicht auf die Courage vor, die er in der Phantasie des Zuschauers auszulösen vermag. Er baut auf die dramatischen Momente des Stücks; denn er betont an keiner Stelle verfremdet und also auffallend die epische Abfolge. Aber das reicht nicht aus, ein neues Bild der Courage zu prägen. Diese Inkonsequenz ist vor allem in der Darstellung der Heldin zu spüren.

Katja Kühl gibt die Courage als relativ junges, vitales, mobiles und schon etwas molliges Weib. Sie räkelt sich kokett in ihrer weiblichen Fülle, wenn der Prediger auf sie losgeht. Sie verflucht den Krieg mit Nachdruck und fast ein wenig pathetisch. Sie läßt spüren, daß sie trotz aller Friedenssehnsucht einem Leben im Frieden schon nicht mehr recht ge­wachsen wäre. Was Katja Kühl nur andeutet, sind geistige Schärfe und pointierte Klarheit der Gedanken, der Courage listig-trockenen Witz, deren herzhaft-geschäftsmäßigen Charme, die Eindringlichkeit ihres bewußten und sachkundigen Umgangs mit Ware und Geld. In Erinnerung bleiben die Augen dieser Courage. Groß und strahlend sind sie ins Publikum gerichtet, wenn sie selbstbewußt singend auf ihrem Wagen auf die Bühne rollt, weit aufgerissen können sie sein, wenn man ihren Sohn entführt oder wenn sie ihn wiederfindet, gebrochen und glasig-leer starren sie schließlich, wenn sie an ihrer toten Kattrin niederhockt. Erbarmungswür­diges Schicksal einer Mütterlichen.

Ist es kleinlich anzumerken, daß der Planwagen der Courage im Verlaufe des Stückes keine auffallenden Veränderun­gen erfährt? Er ist am Ende durchaus nicht sonderlich ramponiert. Diese Un­treue im Detail findet sich leider allenthal­ben. Die Inszenierung ist bemüht im Herausarbeiten der emotionellen Befind­lichkeiten der Figuren. Und es gelingen vor allem Katja Kühl eindrucksvolle theatralische Momente, etwa, wenn der Tod ihres Sohnes Schweizerkas Gewiß­heit wird, und sie zusammenzuckt, als hätte sie der Schuß in den Leib getroffen. Aber die Inszenierung ist verschwommen und unentschieden im Bedienen und Fixieren der gestisch-sozialen Beziehun­gen der Figuren, sie ist nachlässig in ihrem Sinn für deutliche Haltungs­wechsel. Dadurch verliert die gestische Sprache Brechts an Witz und gedanklicher Eleganz, wird allgemein, zu­weilen Gerede. Und an die Stelle des sozialen Gestus tritt die konventionelle theatralische Gebärde. Peter Herden (Feldhauptmann) erweist sich als Virtuos, Rudolf Donath (Feldprediger) steht ihm nicht viel nach, auch Hermann Stövesand (Feldwebel) kennt sich da aus. Herden akzentuiert senil-tattrige Leutseligkeit, Donath skurril-hinterhältige Verschmitzt­heit, Stövesand knorrig-martialische Vor­sicht. Schön sogar, wie dieser Feldwebel es einfach nicht verwinden kann, ein Kreuz gezogen zu haben, wo er doch jeglicher Gefahr aus dem Wege zu gehen pflegt. Lange bohrt dies Mißgeschick im denkträgen Landsknechtsschädel.

Die weniger in der Konvention be­wanderten jungen Darsteller gehen ihre eigenen Wege. Justus Fritzsche (Eilif) scheint sich temperamentvoll selbst zu spielen. Abrecht Goette gibt die Redlichkeit des Schweizerkas vor allem mit bedeutsam gespannter Miene. Dorit Gäbler (Yvette) agiert genau in der Situation, wenn sie um den Schweizerkas kämpft. Da kommt menschliches Empfinden auf. Aber sie überzieht, wenn sie sich hektisch pudert, und sie gerät äußerlich, wenn sie als Obristin stolziert.

Auffällig konkret spielt Hannelore Koch die stumme Kattrin. Sie enthält sich äußerlicher Theatralik, empfindet sensi­bel die Situationen, läßt die Gedanken dieser stummen Kreatur nachvollziehbar entstehen, macht ihren inneren geistigen Reichtum transparent, handelt still, be­stimmt und sparsam. Diese stumme Kattrin erlebt die Wirrnisse des Krieges als aufmerksame Beobachterin, neugie­rig, scheu, zurückhaltend. Ihre Bewertungen des Geschehens setzen sich sofort um in gestisch-mimisches Spiel. Eine große, helle menschliche Naivität entsteht, aufgeschlossen am Anfang, wenn sie mit ungestümer Geste den ungestümen Eilif zügeln möchte, ver­haltener nach ihrer Verwundung, ver­stört, nachdem sie Zeuge des Pfeifenpieterschen Ansinnens geworden ist, trotzig, wenn sie nicht mehr beten mag, noch einmal alle Kraft mobilisierend, wenn sie schließlich, dumpf zunächst, dann immer triumphaler Lärm schlägt.

Auch Wolfgang Dehler als Koch setzt der Inszenierung Lichter auf. Der Koch hat Gemüt, aber der Krieg hat es ausgedörrt in ihm: ein Mensch, den die Verhältnisse geprägt haben. Wenn er nur mit der Fierling und ohne Kattrin zurück nach Utrecht möcht', dann weil der Bursche diesen barbarischen Zeiten seine eigene Kriegslist abgefuchst hat. Dehler forciert den Dialekt ein wenig, damit Vorbilder in Erinnerung rufend, aber er gibt durchweg eine eigene Gestaltung des Pfeifenpieters, chevaleresk, vital, raubeinig. An der Pfeife hält er sich fest, auch, wenn er sich allein wiederfindet in Sturm und Einöde und seine Habseligkeiten aufliest als einer, der die Welt kennt und sich drein zu schicken gelernt hat.

Alles in allem: Regisseur Hannes Fischer hat ein im wesentlichen dem Modell folgendes Arrangement gewählt, übersichtlich in den Abläufen, hand­werklich solid ausgeführt und insofern sehenswert und beeindruckend. Aber seine Hand war locker im Führen des offenkundig inhomogenen Ensembles. Die anempfohlenen Arrangements sind nicht auch Vorgang für Vorgang durch konkrete schöpferische Arbeit der Dar­steller und ihres Regisseurs ausgefüllt. Eine klare, geistig bindende neue Sicht auf das Werk wird so nicht erkennbar. Auch blieb offen, wo in Zukunft angesetzt werden könnte. Beim Rahmen wohl nicht.

 

 

Theater der Zeit, 5/1976