Dantons Tod“ von Georg Büchner, Volkstheater Rostock,

Regie: Hans Anselm Perten

 

 

Ganz nahe an unserem Herzen

 

 

Nach vielen Jahren platonischer Diskussionen hat das Volkstheater Rostock mit einer kühnen und aufsehenerregenden Inszenierung von Dantons Tod" hinweggeräumt, was uns die Sicht auf dieses geniale Werk verstellte. Chefdramaturg Kuba hat recht, wenn er im Programmheft schreibt: „Im ersten deutschen Arbeiter-und-Bauern-Staat ... ist Georg Büchner aus dem Exil heimgekehrt — auch wenn er es mit seinem größten und reifsten Drama ,Dantons Tod' am sozialistischen Theater noch schwer hat, sich durchzusetzen."

Dieses „sich durchsetzen" umschreibt den Prozeß der schöpferischen Aneignung des Erbes, der in seiner Kompliziertheit nur zu verstehen ist aus der wider­sprüchlichen Entwicklung unserer sozialistischen Theaterkunst. Je weiter diese sich entfalten wird — wobei das Publikum hier einbezogen ist —, desto selbstverständlicher und leichter wird sich Büchners Drama durchsetzen.

Kuba und Perten hielten es mit Büchner, der erklärt hatte: „Ich betrachte mein Drama wie ein geschichtliches Gemälde, das seinem Original gleichen muß." Das heißt, sie beachteten vor allem das elementare Aufbrechen des Volkswillens in der bürgerlichen französischen Re­volution, die nach Lenin „für ihre Klasse, für die sie wirkte, nämlich für die Bourgeoisie", so viel geleistet hat, „daß das ganze 19. Jahrhundert, ... unter dem Zeichen der Französischen Revo­lution stand." Kuba und Perten stellten das Werk in seine kon­kreten historischen Zusammen­hänge.

Und dabei enthüllte sich die außerordentliche poetische Kraft und Weitsicht Büchners. Der Dichter hat die wesentlichen Züge der konkreten Etappe der Revolution geliefert. Und die Elemente, die so gern als Beweis für die konterrevolutionäre Ten­denz des Werkes ausgegeben werden, sind bei genauerem Hin­sehen nichts anderes als die historisch getreue Spiegelung der Relativität der bürgerlichen Re­volution in ihren heroischen Ta­gen. Die Großbourgeoisie haßte die Rousseauschen Ideen, sie haßte auch deren Verfechter, die Jakobiner, sie hatte nur das eine Ziel: Freiheit für die Ausbeu­tung, Freiheit für Spekula­tion, Korruption und Sittenlosigkeit. Eben diese Relativität gibt Büchner durch die bewußte Ge­staltung der Progressivität der Jakobiner-Diktatur.

Kubas und Pertens Konzep­tion konzentrierte sich folgerich­tig auf die sogenannte „Blutrede" St. Justs. Sie ist ohne Zweifel der Kern des Dramas, die poetische Idee. In ihr spiegelt sich Büchners Sicht und Wer­tung der bürgerlichen französi­schen Revolution.

Der junge Dichter hatte sich bekanntlich vor den Schergen der deutschen Reaktion hüten müssen. Die Arbeit am „Hessi­schen Landboten" hatte zu Vor­ladungen vor das Kriminalgericht geführt. Büchner bereitete die Flucht aus Deutschland vor. Und um Geld in der Hand zu haben, schrieb er im Frühjahr 1835 in fünf Wochen „Dantons Tod". In das Drama floß sein Haß auf die feudalen Zustände in Deutschland, aber auch seine Trauer über die Bedingtheit des revolutionären Fortschritts in Frankreich und sein Suchen nach einem Weg in die Zukunft.

Im November 1833 hatte Büchner in einem Brief geschrieben: „Ich studierte die Geschichte der Revolu­tion. Ich fühle mich wie zernichtet unter dem gräß­lichen Fatalismus der Geschichte. Ich finde in der Menschennatur eine entsetzliche Gleichheit, in den menschlichen Verhältnissen eine unabwendbare Gewalt, allen und keinem verliehen. Der einzelne nur Schaum auf der Welle, die Größe ein bloßer Zufall, die Herr­schaft des Genius ein Puppenspiel, ein lächerliches Ringen gegen ein ehernes Gesetz, es zu erkennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich..."

Wollen wir angesichts dieser Gedanken mit dem Büchner des Jahres 1833 rechten, wenn uns noch heute Zeitgenossen begegnen, die den dialektischen Zusammenhang zwischen Mensch und Gesellschaft, nicht begreifen? Das ist kein unschicklicher Vergleich, das ist genau die Frage Büchners! Und sie zielt bei ihm bereits auf die Erkenntnis, daß es einen Zusam­menhang geben muß, „ein ehernes", ein objektives Gesetz, „es zu erkennen das Höchste..."

Büchner erreichte nicht dieses Höchste. Er konnte nicht wie Karl Marx und Friedrich Engels wenige Jahre später eine wissenschaftliche Antwort geben. Aber seine poetische Antwort ist nicht etwa ein Verzagen, ist weder Fatalismus noch Nihilismus, sondern Vorstoß zu absoluter Wahrheit. Büchners Antwort ist die „Blutrede" St. Justs. Mit ihr überwindet der Dich­ter seine „Zernichtung" aus dem Jahre 1833 und be­kennt sich rückhaltlos zur Entwicklung der mensch­lichen Gesellschaft, zur Revolution. Diese Rede ist Büchners moralische Legitimation der "Jakobiner-Dikta­tur. Sie gipfelt in dem Ausruf: „Die Revolution ... zerstückelt die Menschheit, um sie zu verjüngen. Die Menschheit wird aus dem Blutkessel wie die Erde aus den Wellen der Sündflut mit urkräftigen Gliedern sich erheben, als wäre sie zum ersten Male geschaffen." Das sind drastische Worte, das ist aber vor allem die Erkenntnis, daß die bürgerliche Revolution — bei aller Relativität — eine neue Qualität der Menschheitsent­wicklung gebiert.

Und das Drama ist nun nicht etwa die Zurücknahme dieser Rede St. Justs, sondern ihre Bestätigung. Büch­ner hat nicht die Niederlage der Jakobiner vom 9. Thermidor 1794 gestaltet, sondern deren revolutio­näres Zuschlagen im Interesse der Revolution und mit Unterstützung der Volksmassen.

Danton, der gefeierte Volkstribun im Kampf gegen die feudale Konterrevolution, der Held des September 1792, Danton, der Revolutionär, begibt sich auf die Seite der Großbourgeoisie. Er ist für die Jakobiner-Diktatur zwangsläufig ein Konterrevolutionär, aber im Sinne der bürgerlichen Revolution bleibt er ein Revo­lutionär. Denn: „Die bürgerliche Revolution stand nur vor einer Aufgabe", schrieb Lenin, „alle Fesseln der früheren Gesellschaft abzuwerfen und zu vernichten. Jede bürgerliche Revolution, die diese Aufgabe er­füllt, erfüllt alles, was man von ihr fordert: Sie stärkt das Wachstum des Kapitalismus". Danton macht sich faktisch zum Sprecher jener Bourgeois, die ihr Ziel er­reicht und diese „eine Aufgabe" gelöst sahen. Nichts wäre daher falscher, als Danton einseitig als verurteilungswürdigen Konterrevolutionär zu spielen.

Zu zeigen ist der Kampf zwischen den verschiedenen Schichten der revolutionären Bourgeoisie, zwischen dem Jakobinertum, einer „der Höhepunkte im Befrei­ungskampf der unterdrückten Klasse" (Lenin), reprä­sentiert durch Robespierre, St. Just und die Volksmas­sen und der in der Revolution reich und behäbig ge­wordenen Großbourgeois, vertreten zum Beispiel durch Barrère und Collot d'Herbois, die noch im Hintergrund bleiben können, weil ein anderer — mehr oder weniger unbewußt — ihr Geschäft besorgt: Danton. Mit ihm „testet" die Großbourgeoisie die Stabilität der Jako­biner-Diktatur. Danton wird zum Spielball der um die Macht kämpfenden Kräfte. Er erkennt das schließlich selbst. Im Gefängnis sagt er einmal: ,,...es ist mir, als wäre ich in ein Mühlwerk gefallen. ."

Bezeichnend für diese Konstellation der Fronten ist ein Gespräch im Wohlfahrtsausschuß. St. Just dringt auf die Hinrichtung Dantons. Barrere, Billaud-Varennes und Collot d'Herbois unterstützen ihn. Doch als St. Just gegangen ist, erklärt Billaud unverblümt: „Bis jetzt geht unser Weg zusammen." Und Barrere ergänzt: „Robespierre will aus der Revolution einen Hörsaal für Moral machen und die Guillotine als Katheder ge­brauchen." Darauf sagt Billaud: „Oder als Betschemel." Und Colot faßt gleichsam zusammen: „Auf dem er aber dann nicht stehen, sondern liegen soll." Das heißt, der Sturz der Jakobiner ist so gut wie beschlossene Sache. Es ist der Großbourgeoisie nur recht, wenn die Jakobiner sich vorher gegenseitig aufreiben.

Büchner feiert mit der Dramatisierung gerade dieser konkreten Etappe der französischen bürgerlichen Re­volution die humanistischen Ideen des fortschrittlichen Bürgertums und des Volkes und verurteilt entschieden die ersten deutlichen Symptome der Volksfeindlichkeit der Bourgeoisie, wie sie sich in den Äußerungen und Handlungen der Fouquier-Tinville, Collot d'Herbois und Billaud-Varennes abzeichnen. Der Dichter bekennt sich zur moralischen Sauberkeit des Jakobinertums und distanziert sich mit Robespierre von Danton, der „die Rosse der Revolution am Bordell halten machen will, wie ein Kutscher seine dressierten Gäule". Büch­ner wählte einen „Höhepunkt im Befreiungskampf" und signalisierte zugleich die Relativität der bürgerlichen Freiheit überhaupt. Büchner schrieb das bedeutendste realistische deutsche Drama unmittelbar nach dem Ende der „Kunstperiode", dem wir endlich den Platz einräumen müssen, der ihm gebührt: „den Platz", wie Kuba schreibt, „ganz nahe an unserem Herzen".

Regisseur Hans Anselm Perten hatte in Gerd Micheel einen vorzüglichen Sprecher für den Saint Just, so daß sich die Inszenierung von dieser zentralen Gestalt her aufbauen ließ. Denn soll Büchners poetische Idee deutlich werden, dann muß St. Just wirklich ein feuriger Kopf, ein mitreißender Redner und eine faszinierende Persönlichkeit sein, in der sich sowohl die Lauterkeit der revolutionären Ideen des französischen fortschrittlichen Bürgertums ausdrückt als auch der glühende Patriotismus, mit dem die Jakobiner die feudalen Feinde des Volkes innerhalb und außerhalb des Vaterlandes schlugen.

Robespierre stellt im Gegensatz zu dem Praktiker St. Just, der immerhin als Kommissar der Rheinarmee wirkte, sozusa­gen die theoretische Seite des Jakobinertums dar. Er ist weniger der feurige als vielmehr der wägende Kopf. In Lothar Krompholz hatte die Regie auch für diese Gestalt einen ausgezeichneten Schauspieler, obgleich zuweilen die etwas singende Diktion Krompholz' das echte, bewegende Pathos seines Spiels stört.

Auch Danton ist gut besetzt. Kurt Wetzel verkörpert dessen ganze Zwiespältigkeit, ohne ihn zu einer tragischen Figur zu steigern oder in Sentimentalität abgleiten zu lassen. Hier schei­tert ein zwar ehrlicher, doch durch Egozentrizität, Überheb­lichkeit und Sittenlosigkeit von den Massen des Volkes und den Parteien des Kampfes isolier­ter Streiter der Revolution. Das hat gewiß tragische Züge, ist aber letzten Endes nur traurig.

Die Regie vermochte die poli­tische Auseinandersetzung und den Sieg der Jakobiner durch eine geschickte Simultanmontage der Szenen im Nationalkonvent und im Revolutionstribunal als Kern des Dramas herauszuarbei­ten. Die Wucht der Anklage ge­gen Danton wird noch dadurch gesteigert, daß die Volksmassen bis weit in den Zuschauerraum auf den Rängen Posto gefaßt haben und von hier in die Auseinandersetzung eingreifen.

Interessant ist die regieliche Lösung der "Szene, in der Fouquier und Herrmann über den Einsatz der Geschworenen beraten. Die Manipulationen der beiden werden durch einen dichten Gazevorhang gleichsam ab­gelehnt, überhaupt arbeitet die Regie versiert mit den Mitteln des modernen Theaters, die nicht nur einen zügigen Ablauf des Geschehens erlauben, son­dern auch eine gewisse Kommentierung und Wertung des Darzustellenden.

Unerfindlich bleibt allerdings, warum über das Ganze ein mystisches Dunkel verhängt wurde, aus dem nur hin und wieder St. Just, Robespierre oder die — übrigens gut eingefügte — Chansonsängerin als Vertreterin des Volkes mit einem Scheinwerfer herausge­griffen werden. Der Akzent auf das Wesentliche ist doch durch Bearbeitung und Inszenierung gegeben! Wäre das nicht erreicht worden, hätte ein solcher for­maler Lichteffekt auch nicht geholfen. Jetzt wird die Aufführung geradezu in den Dämmerschein von Hoftheater-Laternen zurückversetzt. Das haben aber weder das Werk Büchners noch die Bearbeitung Kubas, noch die Regieleistung Pertens verdient. Holte man die Inszenierung ans Licht, würden wir uns wahrscheinlich darüber zu unterhalten haben, ob sie wegen ihrer mutigen szenischen Rehabilitation eines bedeutenden Werkes unserer Nationalkultur nicht eine Auszeich­nung verdiente.

 

SONNTAG, Nr. 27/1962