„Ritter Dene Voss“ von Thomas Bernhard am Schlosspark-Theater Berlin, Regie Heribert Sasse

 

 

 

Flucht in die Irrenanstalt

 

Die Kunde geht, Thomas Bernhards Drama »Ritter Dene Voss« aus dem Jahre 1986, gewidmet drei Dar­stellern des Burgtheaters, habe im Juni dieses Jahres in Wien bei der Wieder­aufnahme in der ursprünglichen Beset­zung, also mit Ilse Ritter, Kirsten Dene und Gert Voss, einen triumphalen Erfolg erzielt. Dreißig Minuten Schlußbeifall, Re­kord jüngster Theatergeschichte. Inso­fern ist es geradezu tollkühn (selbst wenn die Berliner Zuschauer die Wiener Auf­führung nicht kennen), das Stück mit an­deren, gar mit Darstellern herauszubrin­gen, die nicht zur allerersten Garnitur gehören. Hausherr und Regisseur Heribert Sasse am Schloßpark-Theater wagte den Versuch. Das Ergebnis kann sich se­hen lassen.

Gewiß, schon die ausufernden Rede­gefechte der zwei Schwestern, altjüng­ferliche Töchter eines verstorbenen Groß­industriellen in Wien, lassen sich fein­sinniger, »dekadenter«, auch leicht di­stanziert, also verfremdet darstellen. Und die Auseinandersetzung mit dem Bruder, der gnadenlos mit Schwestern, Eltern und Gesellschaft abrechnet, ist wahr­scheinlich ironischer machbar. Doch die selbstverständliche Unmittelbarkeit, mit der hier gespielt wird, nimmt gefangen. Weder aufgesetzte Kafkasche Kälte, noch aufgedrückte Komik. Sasse bediente auch nicht die Künstlernamen, mit denen der Autor - etwas verwirrend - seine Figuren zierte. Vielmehr bewegte ihn die aktuelle sozialkritische Substanz des Stückes.

Peter Kock als Voss hat also nicht ir­gendwie seinen prominenten Kollegen nachzuahmen, sondern den Kapitalisten-Sohn Ludwig zu kreieren, der sich für 7000 Schilling pro Tag in die berühmte Irrenanstalt Steinhof eingekauft hat, dort absolute Narrenfreiheit genießt, jetzt aber von der älteren Schwester ins El­ternhaus geholt wurde, zurück in eine Welt, in der er sich nicht heimisch fühlt. Kock gibt einen nach emotioneller Auf­regung zwar schnell ermattenden Mann, indessen keinen offenkundigen Irren, eher einen nervlich desolaten Choleriker, der seine Lage noch immer gut über­schaut und seine Narretei fast bewußt dosiert. Seine verbalen Attacken gegen die Schwestern, immer verbunden mit Angriffen gegen die Gesellschaft, gegen Ärzte insbesondere, auch den Bischoff, scheinen bei Kock durchaus keinem lä­dierten Hirn entsprungen, sondern haben unmittelbare, elementare Stoßkraft.

Die Abrechnung mit dem ehrwürdigen, gruftigen Elternhaus, wo Vater, Mutter und Onkel wie eh und je von teuren Ge­mälden streng herabblicken (Bühnenbild Matthias Fischer-Diskau), ist vielleicht etwas hysterisch, so doch gewollt, nicht ein­fach über ihn hereinbrechend. Das scheint mir »übereinstimmig« mit dem Autor. Wenn der leidenschaftliche »Woh­ner« Bernhard, Besitzer des Vierkantho­fes Obernahtal in Ohlsdorf, des Gehöftes Krucka in der Nähe des Traunsees und eines Hauses am Waldrand von Ottnang, so bissig über eine herrschaftliche Villa herfällt, tut er das nicht kokett, zielt er aufs Symbol, meint er das Haus stellver­tretend für die Gesellschaft.

Der österreichische Dramatiker ist ein unbestechlicher Kritiker des sozialen Konservatismus. Wer - ein Beispiel - zu­fällig Beobachter der Wiener Fronleichnams-Prozession vom Dom zur Pestsäule wird und diesen in seinem Wesen ana­chronistischen, mit Militär auffällig ver­stärkten Zug zwar dröge, doch höchst le­bendig an sich vorüberziehen sieht, be­greift besser, wogegen Thomas Bernhard vor zehn Jahren so vehement wetterte. Und Kock identifiziert sich mit diesem Protest, er stellt Ludwigs Aufbegehren nie in Frage. Selbst dessen an sich urkomi­scher Affront gegen Brandteigkrapfen will mehr, als nur die Einfalt der Schwe­ster treffen, nämlich Konvention über­haupt. Der Mann mit »Millionen in der Hosentasche«, mit denen er nichts anfangen kann, obwohl er dem Leben so gern einen Sinn geben möchte, weiß kei­ne Alternative. Bei keinem der Philoso­phen, die er studierte, fand er Hilfe. Und ein Doktorat hat man dem Aufsässigen in Cambridge nicht gegeben. Das macht krank, ohne Zweifel - sofern ein Mensch wirklich ernsthaft nachdenkt.

In solche Versuchung kommen die un­bedarften Schwestern erst gar nicht. Ihr Vater hatte sich mit 51 Prozent der Aktien beim Theater in der Josephstadt einge­kauft, hatte also den Direktor in der Hand, was bedeutet, daß die zwei Damen in Haßliebe zum Theater dort noch jetzt gelegentlich spielen, wenn es ihnen be­liebt. Ansonsten öden sie sich an und ty­rannisieren ihren Bruder, sobald der zur Verfügung steht. Wobei die ältere in der Gestaltung von Christiane Ziehl sozusa­gen die plebejische Linie des Hauses be­dient, während die jüngere in Verena Pe­ters Darstellung eher aristokratische Zü­ge erkennen läßt.

Der Abend ist eine erfreuliche Kopro­duktion mit dem Brandenburger Theater. Ob sich dort in der Stadt allerdings schon wieder allgemeines Interesse für millio­nenschwere Industriellen-Sprößlinge und deren elitäre Kümmernisse entwickelt hat, bleibt abzuwarten.

 

 

 

Neues Deutschland, 20. September 1996