„Die Letzten“ von Maxim Gorki am Deutschen Theater Berlin, Regie Thomas Langhoff

 

Jutta Wachowiak und Jürgen Holtz

 

 

Als sei das Stück soeben erst geschrieben...

 

Desavouierung eines Familientyrannen. Das Drama »Die Letzten« von Maxim Gorki über den pensionierten Kreispolizeichef Iwan Kolomizew stammt zwar aus dem Jahre 1908, scheint jedoch erst jüngst geschrieben worden zu sein. Jedenfalls verstehe ich gut, weshalb das Berliner Deutsche Theater in Treue zu dem großen Realisten just dieses Stück auswählte. Wie ein Landesherr über seine Untertanen herrscht ein absoluter Vater über Frau und Kinder, egozentrisch, uneinsichtig, rabiat, glaubend, immer in allerbester Absicht zu handeln, nicht wahrnehmend, wie Haß und Zwietracht eskalieren und die Familie zerstören.

Mit dem Titel »Die Letzten« sind vom Dichter Pjotr und Wera gemeint, die beiden jüngsten von fünf Kindern Kolomizews. Doch, man ist geneigt, damit den wegen Trunksucht und Amtsmißbrauch gefeuerten Kreispolizeichef und mit ihm die ganze verkommene Kaste zu identifizieren, die sich mit Lüge und Bestechung über Wasser hält. Bittere Ironie der Geschichte! Obwohl diese Herrschaften schon zu Beginn des Jahrhunderts sozusagen das »Allerletzte« waren, haben sie wieder und noch immer das Sagen. »Das Schwache, Unnütze geht unter«, orakelte zwar Gorki, aber Dichter sind bekanntlich ohnmächtige Rufer. Die Kolomizews sind zäh, sie gehen nicht unter. Sie sind moralisch zu verurteilen, doch was zählt das schon. Es zählt allein die Fähigkeit, die Macht zu behaupten. Und das kann Kolomizew. Mit Bestechung weiß er das Amt des Kreisrichters zu erschleichen. Wenn darunter ein Unschuldiger leidet, weil er, Iwan, wissentlich falsch ausgesagt hat, stört ihn das wenig.

Selbstverständlich wird Halunke Kolomizew von Regisseur Thomas Langhoff nicht etwa in einer Strafecke zur Schau gestellt. Normalität wird vorgeführt, Alltag in tiefer russischer Provinz. Bühnenbildner Peter Schubert montierte von klobigem, kaltem Mauerwerk umfaßte Innenräume eines alten Herrensitzes auf die Drehbühne, zu den Zuschauern hin wie mit einem kleinen Wall abgeschirmt. In dieser Szenerie, die, obwohl sich immer mal wieder drehend, Eingesperrtsein assoziiert, hat Liebe keinen Platz, toben sich Haß und Lüge aus, leiden vor allem die Kinder unter der Verlogenheit ihres Vaters.

Den Kolomizew besetzte Langhoff mit Jürgen Holtz. Der Schauspieler kann die Figur sich voll ausleben lassen und zugleich immer wieder ironisch in Frage stellen. Alle Attacken dieses Vaters, ob gegen seine Frau Sofia, seinen todkranken Bruder (Dieter Mann als gravitätischer Greis) oder gegen seine Kinder, so verbissen sie vorgetragen werden, haben auch komische, bis ins Groteske gesteigerte Züge. Ein völlig in seine Weltsicht verbohrter, noch rüstiger alter Mann tyrannisiert seine Familie mit der unschuldigsten Miene, mit maßloser Entrüstung gegen alles, was sich ihm in den Weg stellt. Wenn er Gott anruft und seine Einsamkeit beklagt, wenn er sich scheinheilig wie ein Märtyrer gebärdet, erntet er Hohnlachen im Publikum. Die Inszenierung ist genau gepolt.

Gewiß, auch dies Familienpanorama Gorkis hat Längen. Er braucht viele Auftritte und Abgänge, um die Charaktere zu entfalten und deren Konflikte auszutragen. Aber der Regisseur macht die konventionelle Dramaturgie vergessen, weckt mit ausgewogener Wertung Neugier auf Leute, die vor hundert Jahren geldabhängig lebten, als seien sie in moderne Zeiten geboren.

Höhepunkt des Abends ist die Anklage Pjotrs, des jüngsten Sohnes. Der sensible junge Mann, der sehr scheu Verständnis zeigt für die Revolutionäre im Ort, handelt in spontaner Verehrung der Sokolowa, der Mutter des unschuldig Inhaftierten. Thomas Dannemann gibt diesem Pjotr weiche Züge eines unsicheren, eines hilflos zwischen den Eltern verlorenen, gerade erwachsenen Kindes. Mutig fragt er, sich selbst überwindend: »Vater, bist du ein ehrlicher Mann?« Das kommt wie der Schrei eines Ertrinkenden. Es scheint für ewig eine Frage der jungen Generation an ihre Eltern zu sein.

Das Ensemble spielt in bewährter Präzision. Schauspielerische Glanzpunkte, etwa wenn Sofia (Jutta Wachowiak) von Frau Sokolowa (Gabriele Heinz) unvermutet provoziert wird, über ihr Leben als Mutter nachzudenken. Daniel Morgenroth (Alexander), Katharina Linder (Nadeshda), Petra Hartung (Ljubow) und Bettina Kurth (Wera) agieren als die erwachsenen Kinder. Michael Gerber ist der aalglatte, kalt berechnende Dr. Leschtsch, Annelene Hischer die brabbelnde gütige Kinderfrau Fedossja.

Herzlicher Beifall für drei Stunden erlesene Schauspielkunst.

 

 

 

Neues Deutschland, 25. November 1996