4. Alltag der Ausbildung

    (1920-1933)

 

 

dietrich,marlene

Marlene Dietrich

 

 

4.3  Marlene Dietrich und O.E. Hasse in der «Folter»

Der Zustrom an Bewerbern war nach dem Kriege besonders groß. Ferdinand Gregori erinnert sich: «... zu Hunderten drängte man sich zur Bühne, wo früher nur zehn oder zwanzig gekommen waren.“ (4.13)

Die Verantwortung der Prüfenden war erheblich gewachsen. Arthur Kahane, angesehenes Mitglied der Prüfungskommission über viele Jahre, hat seine Erfahrungen niedergeschrieben und versucht, das Finden der Talente aus den «langen Karawanen hoffender Pilgerscharen» (4.14) zu ergründen. «Das Vorsprechen», meint er, «weckt in dem Theatermenschen ähnliche Gefühle wie das Zähnereißen in der übrigen leidenden Menschheit... Wer zum Theater will, muß diese Folter der Feuer- und Wasserprobe über sich ergehen lassen. Es ist bis jetzt noch nicht gelungen, eine angenehmere Folter zu finden.» (4.15) Kahane nennt die Anfänger die mutigsten, weil sie ja noch nichts von den Klippen und Gefahren und Untiefen des Berufes ahnen. Er wird sich der Nachteile bewußt, in einem Bürozimmer oder einem Nebensaal des Foyers zu prüfen. Denn die «Bühne dekuvriert fast immer. Vieles, was in der Intimität der Zimmerwirkung als Ausdruck einer letzten Natürlichkeit, Schlichtheit und Innerlichkeit empfunden wird, erweist sich nachher auf der Bühne als dünn, farblos, schwach...» (4.16)

Für Kahane ist das Vorsprechen nicht viel mehr als eine Visitenkarte, die man abgibt. «Ich finde ein Vorsprechen nur dann aufschlußreich, wenn es - zwei Vorsprechen sind, wenn man sich die Mühe nimmt, den Vorsprechenden zu korrigieren und ihm einige Winke zu geben, und sich dann nach acht Tagen überzeugt, was daraus geworden ist. Da lernt man ihn gewissermaßen in der Arbeit kennen; man erfährt, ob er ein Ohr hat, zu hören, und die Fähigkeit, das Gehörte selbständig zu verarbeiten.“ (4.17)

Kahane fragt bei der Gelegenheit: Woran erkennt man ein Talent? Und er antwortet zunächst salomonisch: «Wer viel versteht, irrt viel. Unfehlbar sind nur, die nichts verstehen.» Doch dann stellt er fest, daß sich bei jedem, der sich lange mit diesen Dingen beschäftigt habe, schließlich eine Methodik herausbilde und ein bestimmtes System von Merkmalen, an denen er das Talent erkennt. «Ich selbst habe es im Laufe meiner Erfahrung zu einer hübschen Sammlung kleiner Geheimnisse gebracht, an denen sich mir das schauspielerische Talent offenbart... Zunächst beobachte ich den Schauspieler auf seinen Körper hin: und wenn ich sehe, daß er das, was er sagt, zuerst im Körper erlebt und dann erst in der Kehle, zuerst in der Geste und dann erst im Wort, beginne ich an sein Talent zu glauben. Und bin davon überzeugt, wenn ich auch nur die Spur eines Versuches wahrnehme, hinter dem Text, den er spricht, und eventuell sogar gegen den Text, und neben dem Ausdruck der gegebenen Situation die Figur anzudeuten oder gar festzuhalten, die er spielt; denn hier, in dieser Doppelbödigkeit des Spiels, fängt die eigentliche Schauspielerei erst an; ein Gefühl, eine Stimmung in einem Tone ausdrücken kann immer noch Rezitation oder Deklamation sein: Gestaltung beginnt, wo ein Hintergrund mitspielt...» (4.18)

Das fürsorgliche Bemühen der prüfenden Herren, die «Folter» zu erleichtern, konnte gelegentlich dazu führen, daß sie einen Kandidaten oder eine Kandidatin zusätzlich irritierten. Bei Marlene Dietrich (1901 1992)) stießen sie auf eine Bewerberin, die ein sehr sensibles Empfinden für die gegebene Situation hatte.

Sie berichtet: «Es gab eine berühmte Schauspielschule in Berlin, die Reinhardt-Schule. Dorthin ging ich, um vorzusprechen... Mehrere ältere Herren saßen in tiefen Sesseln und prüften uns mit strengen Blicken. Es schien uns eine Ewigkeit. Zum Vorsprechen wurde das Gretchen-Gebet aus dem "Faust" gewählt. Als ich an die Reihe kam, riet man mir, mich hinzuknien. Ich hielt es für ziemlich überflüssig, in einem Zimmer niederzuknien, und zögerte. Da warf mir einer der Lehrer ein Kissen vor die Füße. Ich wußte nicht, was das bedeutete, sah den Herrn an und fragte: "Warum tun Sie das?" Er erwiderte: "Damit Sie darauf knien können." Ich war verwirrt, denn soviel ich wußte, hatte Gretchen kein Kissen zur Verfügung, wenn sie in der Kirche betete. Aber ich kniete und sprach meinen Text, obwohl mich das Kissen störte.» (4.19) Die Lehrer entschieden sich für Marlene Dietrich, nicht ohne ihr zu bedeuten, sie hätte sich eine «gefährliche Karriere» (4.20) ausgesucht. Doch sie konstatierte: «Gefährlich oder nicht, es war wunderbar. Die Arbeit wurde uns nie zuviel. Wir bemühten uns, auch den schwierigsten Anweisungen der Lehrer gerecht zu werden und uns ihre Kenntnisse anzueignen. Wir studierten.» (4.21) Mit ihr war auch Grete Mosheim aufgenommen worden.

 

hasse,o

O.E.Hasse als Jupiter in Sartres „Die Fliegen“

 

Ein anderer Bewerber, Otto Eduard Hasse (1903-1978), versuchte der «Folter» zu entgehen. Er hatte schon bei Berthold Viertel vorgesprochen, und der hatte ihm geraten, bei der Juristerei zu bleiben. «Aber ich ließ nicht ab von meinen Plänen. Ich hörte von der Reinhardt-Schauspielschule, und alle sagten, dort müsse ich hin... Ich ging in die Schumannstraße,... erkundigte mich und erfuhr, daß in kurzer Zeit vor einem Gremium Aufnahmeprüfungen stattfänden. Also wieder vorsprechen!» (4.22) Hasse meldete sich zur Prüfung an. «Ich hatte mir einen aus Verzweiflung geborenen Mogelplan zurechtgemacht. Ich kam zur Prüfung einen Tag später, als sie angesetzt war, und als der Direktor Held mir das sagte, tat ich untröstlich und bat ihn, er möge mich doch allein prüfen, was er zunächst ablehnte. Aber ich trieb meine Tricks weiter. Ich sagte, daß ich in Devisen zahlen würde (die Rentenmark war gerade geboren, und man traute ihr wohl noch nicht recht). Ich war mir meiner Erniedrigung wohl bewußt, aber ich biß die Zähne zusammen, sprach ihm auch was vor...» (4.23) Und Hasse wurde als Hospitant in die Schule aufgenommen. Die Sonderlösung führte dazu, daß er zwei Reihen hinter den begabten Schülern sitzen durfte. «Sie waren alle sehr nett, sehr liebenswürdig, und

 

 

treff,alice     evans,karin     drews,berta

Alice Treff       Karin Evans       Berta Drews

 

es waren Schauspieler dabei, die man noch heute kennt: Renate Müller, Werner Fuetterer, Alice Treff, Karin Evans. Auf der Rücklehne meiner Vorderbank entdeckte ich... den Namen Berta Drews...» (4.24) Beim stimmtheoretischen Unterricht durfte Hasse mitmachen, beim künstlerischen nicht. Erst ein neuer Lehrer, der junge Lothar Müthel, bezog ihn ein, sagte gar, daß er sehr begabt sei. «Das war nach Jahren der Erniedrigung der erste Tropfen auf mein verdorrtes Anfängerherz.» (4.25)

 

 

 

 

Anmerkungen:

 

4.13    Ferdinand Gregori, der gelernte und der ungelernte Schauspieler, in: Das deutsche Theater, Jahrbuch für Drama und Bühne, Bd. II, Bonn und Leipzig 1924, S. 96   

4.14    Arthur Kahane, Der schauspielerische Nachwuchs, in: Theater, Berlin 1930, S. 183   

4.15    Ebenda. An der «Reicherschen Hochschule für dramatische Kunst» in Berlin wurden als Vorbereitung für den jeweils neuen Jahrgang in den Monaten Juli und August Ferienkurse durchgeführt. Vgl. hierzu: Die Reichersche Hochschule für dramatische Kunst, Berliner Börsen-Zeitung, 5. Juli 1924   

4.16      Ebenda, S. 191    Zurück zum Text

4.17      Ebenda, S. 195    Zurück zum Text

4.18    Ebenda, S. 205    Zurück zum Text

4.19    Marlene Dietrich, Ich war, was man eine Statistin nennt, in: Verweile doch..., a.a.O., S. 493   

4.20       Ebenda

4.21       Ebenda    Zurück zum Text

4.22     Otto Eduard Hasse, O.E. Unvollendete Memoiren, München 1979, S. 27

4.23    Ebenda    Zurück zum Text

4.24    Ebenda, S. 28

4.25    Ebenda    Zurück zum Text

 

 

 

 

 

 

Vorwärts zu „Der Hausherr kehrt zurück“

Zurück zur Startseite