„Rocky Dutschke, 68“ von Christoph Schlingensief an der Berliner Volksbühne, Regie Christoph Schlingensief

 

 

Fröhlichkeit bannt Resignation

 

Neubelebung des Happening an der Berliner Volksbühne. Christoph Schlingensief, 35 Jahre alt, provokanter Filmemacher („Terror 2000", „United Trash"), Theaterschocker der Nation, beschwört mit „Rocky Dutschke, '68" den Geist einer inzwischen gesellschaftskonformen Generation.

Das Gaudi beginnt auf der Straße. Spiel-Polizisten juxen auf einer Mini-Hindernisbahn. 19.30 Uhr kurvt Rudi Dutschke (Sophie Rois) auf einem Fahrrad hin und her, die linke Hand lustig zur Faust geballt. Lärmend marschieren Demonstranten (Bolschewistische Kurkapelle Schwarz-Rot) heran, militant voran eine Frau (Astrid Meyerfeldt) mit roter Fahne. Hinter ihr die Losung: „Keine Macht für niemand". Plötzlich Gerangel. Schüsse fallen. Dutschke stürzt, wird schnell weggebracht. Unterdessen stürmt die Meute zum Liebknecht-Haus der „Aussätzigen". Im ersten Stock wird die Losung „Fürchtet euch nicht" entrollt. Inzwischen fährt Henry Maske (Bernhard Schütz) in seinem Wagen vor. Ordnungshüter schirmen ihn ab. Die Szene beruhigt sich.

Nun werden die Schaulustigen per Megaphon aufgefordert, ins Theater zu gehen. Im Foyer tändeln Nudisten. Auf der Bühne singt der Arbeiter- und Veteranen-Chor Neukölln revolutionäre Lieder. Im leer geräumten Saal kann man auf den Stufen Platz nehmen. Der ansonsten wenig auskunftsfrohe Personenzettel empfiehlt: Mehr Emotionen! Ich registriere: Die vorwiegend jungen Leut' ringsum sind guter Laune, harren aufgeschlossen der Dinge, die noch kommen werden. Oder hat Schlingensief schon alles Pulver verschossen?

Keineswegs. Events am laufenden Band. Schlingernd zwischen Improvisation und Verabredung, zwischen Anspruch und Klamauk, oft die Zuschauer von den Stufen scheuchend, entwickelt sich ein Polit-Spektakel guter Volksbühnen-Tradition (von Piscator bis Besson). Eine Mixtur von Revue, Collage, Kabarett, Film und Spiel, immer wieder musikalisch aufgepeppt. Dabei wird mit Dutschkes Schicksal alles andere als respektvoll umgegangen. Nicht etwa eine Ehren-Legende wird montiert, sondern ein Held entheroisiert.

Lehrer und Schüler des Luckenwalder Gymnasiums, gespielt vom Ensemble, bereiten eine Ausstellung über den ehemaligen Schüler Rudi Dutschke vor. Stationen der Partitur: Trennung vom Elternhaus; der junge Mann will nicht in die NVA, wechselt nach Westberlin. Dort studiert er, erlebt er Sex (was Schlingensief, der seit zwei Jahren vergebens Nachwuchs zu zeugen versucht, dazu benutzt, ein kleines Ritual zu inszenieren, eine Wunsch-Demo in Sachen Sperma). Dutschke geht in die Politik. Dem Philosophen Marcuse stellt er komplizierte Fragen. Dann Vorführung des Attentäters Bachmann. Kabarettistische Einlagen folgen. Biermann wird karikiert. TV-Interviews Heiner Müllers werden ironisiert. Schließlich spielt eine der Lehrerinnen mit einem roten Herzen. Ein Ehrenhain schwebt ein: Porträts von Karl, Che, Tamara, Erich, Kim, Rudi und Martin. Eine große „68" brennt ab. Ende. Prompt lockt ein Bier-Tresen. Und viele Zuschauer strömen...

So wirr und anarchisch vom Chaos der bürgerlichen Gesellschaft erzählt wird und so resignativ und wehmütig von der Vergeblichkeit revolutionären Aufbegehrens - der Abend hat etwas Befreiendes, zeugt trotz oder wegen seines jugendlichen Ungestüms von plebejischer Selbstbewußtheit. Da ist der gewitzte Moderator Schlingensief. Da sind die beherzt Agierenden Sophie Rois, Astrid Meyerfeldt, Rosemarie Bärhold, Bernhard Schütz und weitere Spieler.

Abrechnung mit den 68ern? Ja, durchaus. Versöhnlicher Spott auf Bundesbürger, die es nicht schafften, ihren Staat zu reformieren. Und neuer listiger Hohn. Darüber, wie sich rund zwanzig Jahre später DDR-Bürger „einwickeln" und „über den Tisch ziehen" ließen. Lebenskluge Fröhlichkeit bannt Resignation. Die Bühne - nicht nur tröstender Zufluchtsort, Stätte heiterer Abreaktion frustrierender Wirklichkeit, bei illusionsloser, objektiver Sicht auch ein Ort unverkrampfter, zusammenführender Nachdenklichkeit.

 

 

Neues Deutschland, 20. Mai 1996