„Elementarteilchen“ von Michel Houellebecq an der Berliner Volksbühne, Regie Frank Castorf

 

 

Gott ist abgeschafft

 

Gott ist abgeschafft. Und der neue Mensch, ein binäres Wesen, kann nach Herzenslust vögeln, ohne Sorge haben zu müssen, ein Kind zu erzeugen. Der Nachwuchs wird per Cloning erledigt. Die spektakuläre Vision Michel Houllebecqs ins dritte Jahrtausend ist indessen mehr Nachspiel als Quintessenz seines im Detail faszinierend realistischen, insgesamt etwas redseligen Bestsellers. Vom makabren Schicksal zweier Halbbrüder aus der begüterten französischen Mittelschicht der „Nachachtundsechziger“ auf die ganze Menschheit kurzzuschließen, ist ohnehin recht eigenwillig, mehr Hybris des Schreibers als glaubwürdiger Zugriff auf Realität. Realo Frank Castorf lässt sich denn auch bei seiner Uraufführung „nach Texten von Michel Houellebecq“ weniger auf Visionäres ein, als vielmehr auf die Befindlichkeit des in der turbokapitalistischen Chaosgesellschaft lieb- und glücklos lebenden Erdenbürgers.

Der zeitgenössische Mensch  -  bei Houellebecq krank durch Individualisierung, die zu Vereinsamung führte  -  ist bei Castorf nur noch eine Nummer. Das heißt, bei ihm treten nicht die Halbbrüder Bruno und Michel auf, sondern „1“ und „2“ (wobei, wenn man schon so verfährt, es richtiger gewesen wäre, die zwei Seiten einer Existenz „1a“ und „1b“ zu benennen). Auch die anderen Gestalten sind namenlos, womit Zuschauern, die den Roman nicht gelesen haben, die rote Karte gezeigt wird.

Der Hausherr der Volksbühne strebt keinerlei soziale Ortung an, sondern allgemein das Desaster des individuellen Lebens. Er signalisiert seine Absicht auch mit dem Bühnenbild (Ausstattung Bert Neumann), eingerichtet als ein exquisiter Swinger-Club mit allen Raffinessen moderner Körperunterhaltung, gut gepolstert alle Wände, und insofern auch ein bisschen mondäne Gummizelle. Ein Fit- und Wellness-Raum für „enjoy“ jederzeit, was hier holländisch „snoezelen“ heißt, „schnüffeln und dösen“  -  aber letztlich, wie sich zeigt, ein Platz ist für öde Quälerei und insofern durchaus repräsentativ für die gesellschaftlichen Verhältnisse.

An eben diesem illustren Ort blättert der Regisseur den Roman überraschend züchtig auf wie ein Bilderbuch, den Autor zitierend, kommentierend und illustrierend, aber nie simpel kopierend. Wobei er allerdings von seinem Dramaturgen Carl Hegemann ohne erkennbaren Gewinn auch hin- und zurückblättern lässt. Beiden Herren geht es offensichtlich um Zustände, nicht um Abfolgen. Solch „Anti-Fabel-Theater“ mag für bewusst pluralistische Bühnenkunst stehen, wird allerdings durch Castorfs Verfremdungs-Manie diskreditiert.

So inflationär Houellebecq mit wissenschaftlichen Daten um sich wirft, so üppig hantiert Castorf mit seinen Mitteln theatraler Verfremdung. Ich will nicht behaupten, sie seien verbraucht, sie sind gelegentlich sogar neu. Etwa wenn Massen von Seifenschaum aus dem Schnürboden stürzen, um „1“ und „2“ Gelegenheit zu geben, als Halbwüchsige herumzutollen und erste Greifversuche nach einem Mädchen zu machen. Aber sinnleere Bühnenvorgänge ergeben keinerlei ästhetische Qualität, schon gar keine Aussage über die Sinnleere des Lebens. Viel zu oft operiert der Regisseur mit rein formalen Verfremdungen, die zwar für Momente zirzensisches Gaudi bedeuten, aber eigentlich nur Ballaststoffe sind. Ich erwähne die tierisch fauchenden Schwangeren, das Sackhüpfen, die Ballerei mit Styroporkugeln, die Verzerrung von Gesängen, die willkürlich benutzten Sprech-Masken der Schauspieler, deren Mätzchen als kläffende Hunde. Zunehmend zerbröselt, was vielversprechend anfängt.

Die Stars Herbert Fritsch und Martin Wuttke, die als „1“ und „2“ agieren, eröffnen den Abend als nervöse Moderatoren, referieren fulminant ironisch Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“ aus dem Jahre 1932, machen fröhlich mit dem „Fun“-Raum bekannt, lümmeln sich auf riesigen Lederkissen und steigen unvermittelt ein in die Erörterung ihrer unbrüderlichen Beziehungen sowie die sachkundig männliche Begutachtung der Brüste von Brunos Frau. Das machen sie exzellent  -  Fritsch den hochsensiblen Neurotiker akzentuierend, Wuttke den depressiven Melancholiker. Noch scheint die Konzentration angesagt, die der Programmzettel verspricht. Doch sobald die nächste Figur auftritt, verlieren sich die Konturen, schon weil Nummer 7 nicht so ohne weiteres einzuordnen ist.

Über drei Stunden begeben sich einigermaßen kurzweilige, leider nicht immer schlüssige Aktionismen. Wirklich kommunikativ wird das Geschehen, sobald die Schauspieler Vorgänge spielen können. Etwa wenn das frisch verliebte Paar, Christiane (Astrid Meyerfeldt) und Bruno, von glücklicher Zweisamkeit träumt, wenn Susanne Düllmann als Annabelle verbittert-vorwurfsvoll ihre Beziehungen zu Männern ausplaudert oder wenn Joachim Tomaschewsky als Michels Chef über das Leben meditiert. Wahrhaft grotesk-makaber ist die Sterbeszene der Mutter (Susanne Düllmann), die von der Brüdern brutal hereingeschleift und dann beschimpft und beweint wird. Sehr sinnfällig auch, sehr anrührend, wie die querschnittgelähmte Christiane mit verzweifeltem Lachen ihre hoffnungslose Lage quittiert, oder wie Michel in stoische Abstumpfung verfällt, sobald er von Annabelles tödlicher Krebserkrankung erfährt.

Frank Castorf will seine Inszenierung ganz offenkundig nicht pessimistisch enden lassen. Geradezu demonstrativ wird „Du hast nichts Böses getan!“ herausgestellt, als Bruno seine Lebensleistung bezweifelt. Und wenn Martin Wuttke ironisch die neue Spezies kommentiert, die die Menschheit abgelöst hat, hangelt hinter ihm ein seltsames Teletubbie-Wesen erfolglos die Kletterwand hoch, die vorher die Menschen mühelos bewältigt haben. Dann wird’s gar sentimentalisch: Darstellerin Brigitte Cuvelier führt rührselig einen Super-8-Film ihrer harmonisch sorgenfreien Kindheit vor. Das hat man natürlich unbedingt wissen müssen.

Castorf ist berühmt auch wegen seiner mehrfachen Schlüsse. Er ist nach wie vor der innovationsreichste Berliner Regisseur. Noch ist er kein Altmeister; er arbeitet unverdrossen mit dem Rüstzeug seines Sturm und Dranges. Aber es scheint, als sortiere er um. Seiner Inszenierung fehlt der lakonische Zynismus (schon ganz und gar übrigens der schier grenzenlose des Autors), sie will den Menschen und zelebriert alles Spiel mit wehmütiger Melancholie. So ist denn der Abend durchaus ein Ereignis.

 

 

 

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