„Am Ende der Nacht“ von Harald Hauser am Landestheater Dessau, Regie Adolf Loose

 

 

 

Bombay ist keine Lösung

 

Hausers Stück zähle ich zur sozialistischen Aufklärungs-Dramatik. Ein notwendiges Stück also im Jahre 1955, in der Zeit des beginnenden Aufbaus der Grundlagen des Sozialismus in unserem Lande, in einer Zeit zugleich, die — am Ende der faschistischen Nacht — geprägt wurde vom Kampf derer, die um die Überwindung des faschistischen Ungeistes im Sinnen und Trachten der Deutschen rangen. Das waren nicht selten Genossen aus der Sowjetunion. Das Stück ging damals über die meisten Bühnen unseres jungen Staates und hat seine tagespolitische Aufgabe erfüllt. Und dies, obwohl es in der Machart durchweg konventionell ist. Bei der heftigen Auseinandersetzung der Hauptfiguren hat draußen hinterm Fenster ein Gewitter »mit Blitzen, Donner und an die Scheiben prasselndem Regen in vollem Gange« zu sein. Solch Gewitter hat das Stück schon vor zwanzig Jahren nicht eindrucksvoller gemacht, auch nicht theaterwirksamer. Die drei Personen, zwischen denen der Konflikt ausgetragen wird, reden sehr viel. Die Dialoge sind aber weniger dramatische Auseinandersetzungen, als vielmehr Gespräche über Probleme. Der dritte Akt könnte ohne sonderlichen Verlust gestrichen werden. Dennoch: ein notwendiges, ein nützliches Stück.

Rekapitulieren wir zunächst, worum es geht. Dr. Jenssen, der in einem SAG-Betrieb als Hauptingenieur arbeitet, findet als bürgerlicher Intellektueller keinen Zugang zu den neuen Methoden sozialistischer Arbeitsorganisation. Er hält nichts von Wettbewerben und Selbstverpflichtungen, vor allem aber glaubt er nicht an die bewegende Kraft der Arbeiterklasse. Gegen seinen Willen wurde die Leistung der Hauptturbine erhöht, nun droht ihr Ausfall. Das führt zum Konflikt mit dem sowjetischen Hauptingenieur Strogow, der Jenssen an seine Verantwortung erinnert. Doch die Fabel wird nicht an diesem Konflikt weitergebaut. Jetzt hat Jenssen Erinnerungen an die Kriegszeit. Da war er auch schon als Ingenieur im Betrieb, und einmal hat er einem verhungernden sowjetischen Kriegsgefangenen etwas Brot abgegeben, fand aber, als die Tat entdeckt wurde, nicht den Mut, zu ihr zu stehen. Nun vermutet er in Strogow diesen sowjetischen Kriegsgefangenen, er ahnt Vergeltung, redet sich's ein. Er hat auch schon vorgesorgt, er will nämlich mit seiner Geliebten, einer Laborantin aus dem Werk, nach Bombay.

Doch die Freundin Eva, von Jenssen eingeweiht, begreift, daß ein Weggehen nach Bombay keine Lösung ist. Der verbittert-verbiesterte Dr. Jenssen enttäuscht sie, und sie verhehlt nicht, daß ihr Strogow sympathisch ist. Dieser Strogow kommt mit seiner menschlichen Lauterkeit und seiner selbstbewußten Entschiedenheit aus einer Welt, die Eva fasziniert, zu der sie Zutrauen gewinnt. Strogows vertrauenerweckendes Verhalten gibt ihr die moralische Kraft, den völlig verworrenen Jenssen in seiner Wohnung aufzusuchen und mit ihm zu rechten. Da stellt sich heraus, daß Jenssen aus dem Westen Drohbriefe bekommt, die ihn noch mehr verwirren. Doch Eva und Strogow gelingt es, den Doktor von seiner fixen Idee abzubringen.

Zweifellos war es keine Meisterleistung der Dessauer Dramaturgie, sich dieses Dreipersonen-Stück ausgerechnet für das große Haus einfallen zu lassen. Wenn es dort mit Achtungserfolg über die Bühne ging, ist das den Darstellern des Strogow und der Eva zu danken. Auch dem Regisseur Adolf Loose, der eine szenisch dichte Abfolge von einfachen Vorgängen für die Dispute fand, so daß der Eindruck von Weitschweifigkeit vermieden wurde. Die Figuren-Beziehungen sind überlegt in den von Fridolin M. Kraska mit Stellwänden ausgestatteten Raum arrangiert, gerade so geschickt, daß man die Stellungs-Regie nicht aufdringlich empfindet. Nichts ist unnötig theatralisch aufgeheizt, das Gewitter bleibt im Hintergrund.

Den Boris Strogow gibt Wolfgang Schmieder mit gefälliger Freundlichkeit, vielleicht ein wenig zu wohlwollend und umgänglich, so daß der Argwohn des Jenssen von hier nicht verständlich wird. Der Strogow verträgt schon eine Nuance Härte, auch Bissigkeit, das macht ja dann die Umbrüche — in die Hilfe für Eva, auch sein treuherziges Verliebtsein in sie — erst recht kräftig und gibt der Figur einen schönen Reichtum. Die Eva hat in Ute Drewniok eine gute Besetzung gefunden. Das ist eine aparte Darstellerin, die dieser Figur eine reife, überlegene Ausstrahlung zu geben vermag. Zwar inszeniert sie sich stets ein bißchen selbst, aber das macht sie mit gezielter Ausdruckskraft und überlegter Diktion, wobei sie zugleich eine schmiegsame Beseeltheit in die Figur einbringt. Das ist von kluger Disposition. Gerade diese ganz präsente Eva läßt die Besetzung des Dr. Jenssen mit Karl Thiele als unglücklich erscheinen. Thiele hat aber auch gar nichts von einem konservativen, konsternierten bürgerlichen Intellektuellen. Er könnte gewiß einen fabelhaften Edgar Wibeau abgeben, der Doktor Jenssen jedoch wird in seiner Darstellung trotz redlicher Mühe ein halbgewalkter Jüngling. Hier ist dem Stück eine Dimension entzogen.

 

 

 

Theater der Zeit, 12/1979