„Engel in Amerika“ von Tony Kushner am Deutschen Theater Berlin, Regie
Dieter Giesing
Lieber tot als rot
Einem glühenden Verfechter des Antikommunismus, dem Staranwalt Roy M.
Cohn, der entscheidend dazu beitrug, die Rosenbergs auf den elektrischen Stuhl
zu bringen, hat der amerikanische Dramatiker Tony Kushner mit seinem Schauspiel
„Engel in Amerika" ein theatrales Monument gesetzt. Ihm ist eine Figur
gelungen, die in ihrer tatendurstigen, lebensprallen und egoistischen Unbedingtheit
an Shakespeares Helden erinnert. Zum Beispiel an Richard III. Das 1991 in San Francisco
uraufgeführte, inzwischen mehrfach mit Preisen bedachte Stück hat jetzt Dieter Giesing
vom Burgtheater Wien am Deutschen Theater in Berlin mit Dieter Mann als Cohn so
differenziert wie menschenkundig inszeniert. Es wurde eine Aufführung, die lange
im Gedächtnis bleiben wird.
Und zwar nicht, weil da ein politischer Gangster porträtiert ist,
sondern: Weil Kushner mit faszinierender psychologischer Präzision ein
betroffen machendes Sittengemälde vom Schmelztigel Amerika entwirft, von dem er
einen Rabbi (Reimar Joh. Baur) sagen läßt, daß er gar keiner sei, daß da nichts
verschmelze. Viel mehr würden darin alle Klassen-, Rassen- und vor allem
Geschlechter-Gegensätze erbarmungslos ausgetragen. Im nächsten Jahrtausend,
orakelt eine Obdachlose in der South Bronx (Susanna Simon), sind wir alle wahnsinnig.
Das scheint nicht übertrieben. Denn zum sozialen Elend der Ausgebeuteten
und zur Korruption der Mächtigen ist eine schreckliche Krankheit gekommen, die
keine Unterschiede macht und der die Gesellschaft vorerst ohnmächtig ausgeliefert
ist: Aids. Die Krankheit potenziert gleichsam alle ohnehin obwaltende Entfremdung,
treibt die Menschen wie eine Geisel. Kushners „Engel" - ein poetischer
Trick - sind Halluzinationen der Kranken, bringen denn auch keine „Erlösung", sind eher ein Hohn, ein letztes Aufflackern
der Phantasie wie des Gewissens und können dennoch Trost sein für an Aids Sterbende.
Letztlich erst durch die entsetzliche
Krankheit wurde es in den USA möglich, offen über einen schicksalhaften Zusammenhang
zu sprechen, über Aids und Homosexualität. Wenn bei Kushner der Eindruck
entsteht, gleichgeschlechtliche Liebe dominiere die Gesellschaft, mag diese
Unausgewogenheit eben dem Bedürfnis geschuldet sein, endlich unumwunden darüber
schreiben zu können.
Als Prototyp drängte sich dem Autor Roy M. Cohn auf, der perfekte
Manipulator von Richtern und überhaupt der öffentlichen Meinung. Der begehrte
Anwalt nämlich, ob für Norman Mailer, Frank Sinatra, den FBI-Chef Hoover oder
für die Präsidenten Nixon und Reagan, die rechte Hand McCarthys, der ihm „wie ein Vater" war, Cohn kämpfte öffentlich
gegen Homosexualität, pflegte privat aber intime Beziehungen zum eigenen Geschlecht.
Er starb 1986 an Aids. Ein wahrhaft schillernder Charakter.
Wenn einem plötzlich Shakespeare in den Sinn
kommt, dann allerdings insbesondere wegen Dieter Mann als Roy M. Cohn. Er
identifiziert sich, bringt die Gestalt aber auch in die Kritik. Er spielt den
skrupellosen,
machtbesessenen Karrieristen knallhart und rigoros entlang der Abgründe dessen
Lebens. Der Anwalt zunächst auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn. Souverän am Telefon,
immer mit Leuten an der Strippe, die ihm am anderen Ende der Leitung zu Füßen zu
liegen scheinen. Cool und doch herzlich ist er im Umgang mit Joe Pitt (Götz
Schubert), einem jungen Juristen, den er mag, den er als seinen Vertrauten in
Washington unterbringen möchte. Dann Cohn beim befreundeten Arzt (Klaus Piontek).
Eben hat er von seiner schweren Erkrankung erfahren. Beim Zuknöpfen des Hemdes,
beim Überziehen des Jacketts baut er trotzig Widerstände auf, deklariert er
autoritär, Leberkrebs zu haben. Später Cohn an einer Bar. Schon gezeichnet von
der Krankheit, in sich hineingeduckt, aber verbissen dagegen ankämpfend. Dann
noch einmal der Versuch, Joe zu gewinnen, assistiert von Martin Heller, einem
Vertreter des Justizministeriums (Michael Maertens). Vergeblich. Schließlich,
bereits schwer erkrankt, verkündet Cohn sein Credo: Er haßt Verräter. Er ist lieber
tot als rot. Und er vergöttert emphatisch die Möglichkeit, in Washington in
führender Position arbeiten zu können. Mit letzter Kraft reißt er Joe an sich,
ihm seine Liebe offenbarend. Aber Joe, noch nicht korrumpiert, mag sich ihm
nicht ausliefern. Dem Alleingelassenen erscheint die tote Ethel Rosenberg
(Christine Schorn) als eine gütige, verzeihende Frau. Cohn ist in der exzellenten
Gestaltung von Dieter Mann ein wahrer Teufel dieses Jahrhunderts, den sich
die Hölle zurückholt.
Aber Tony Kushner moralisiert nicht. Er tut nicht etwa so, als habe eine
höhere Gerechtigkeit diesen Cohn sozusagen zu Recht dahingerafft. Nein. Der
Autor konstatiert, schildert rückhaltlos lebenswahr und ist eben damit sehr wirkungsvoll.
Denn Aids, ob diese Krankheit nun die Hölle oder der Himmel über die Menschheit
geschickt haben mag, Aids befällt auch Menschen, die keine Verbrechen begehen.
Auch davon erzählt Kushner. Geschickt koppelte er seine Haupthandlung mit Nebenhandlungen.
Joe ist verheiratet mit Amaty (Ulrike Krumbiegel). Die Frau findet an
seiner Seite keine sexuelle Erfüllung. Erträumt sich mit Hilfe von Valium ein
kleines Glück, das ihr ein phantastischer Reisebüroangestellter (Daniel
Morgenroth) verschafft. Joe hingegen, ein Mormone, der sich bewußt wird, homosexuell
zu sein, sich zunächst dagegen wehrt, dann offen bekennt, sucht Liebe bei Louis
Ironson, einem Angestellten des Bundesappellationsgerichtes. Michael Maertens
gibt diesen hochsensiblen, intelligenten, gewitzten, gelegentlich äußerst
redseligen Louis brillant. Wobei diese Figur vom Autor ein Potpourri von
Wahrheiten über Demokratie in den Mund gelegt bekommt, daß selbst Belize
(Daniel Morgenroth), der Ex-Liebhaber von Prior, der auch nicht auf den Mund
gefallen ist, die Segel streicht. Prior (Wolfgang M. Bauer), der Partner von Louis,
stirbt an Aids. Louis erträgt das nicht, verläßt ihn, sucht ein neues Glück mit
Joe...
So ist das Leben. Es geht immer irgendwie weiter. Es treibt den Menschen
um, fordert ihn heraus, gebiert Beziehungen, die die einen für Liebe halten und
kultivieren, andere egoistisch und kurzzeitig für ihr seelisches und
körperliches Wohlergehen benutzen. Der Autor läßt es uns wissen. Schonungslos
offen. Und der Regisseur serviert es in einem Bühnenbild Karl-Ernst Herrmanns,
das den eigentlich trostlosen Begebnissen einen gleißenden Rahmen gibt.
Beredtsamer akustischer Background ist Janusz Stoklosas Musik.
Ein großer Abend für das DT. Bravos. Langanhaltender Beifall.
Neues
Deutschland, 20. Dezember 1994