„Die Ermittlung“ von Peter Weiss am Maxim Gorki Theater Berlin, Regie Jochen Fölster

 

 

 

 

Gegen das Vergessen

 

 

„Es ist noch nicht zu Ende!" Schlußworte der Ermittlerin. Von Anne-Else Paetzold am Berliner Maxim Gorki Theater besonnen und teilnahmsvoll präsentiert. Die Frau insistiert auf Wahrheit, dabei ihre Gefühle immer wieder zügelnd. Sie fragt, erkundet, forscht in Sachen einer deutschen Ungeheuerlichkeit, wie sie an mörderischer Perfidie seither wohl nur von den USA in Vietnam überboten wurde.

Was Deutsche in Vernichtungslagern wie Auschwitz verbrochen haben, ist heute gewiß nicht mehr unmittelbar Gegenstand eines Anklägers, wie es Peter Weiss 1964 ratsam schien, als er sein Oratorium in 11 Gesängen „Die Ermittlung" schrieb. Ob es der Wahrheit dienlich ist, die Verbindung zwischen deutscher Todesfabrik und deutscher Großindustrie, die Weiss bewußt-machte, nun heute fast zu eleminieren und die Verbrechen eher als Fatum erscheinen zu lassen, sei dahingestellt. Angesichts der sich wiederholenden Versuche aber, die Massenmorde überhaupt aus der Welt zu lügen, sie künftigen jungen Generationen als angeblich nicht gerschehen mit auf den Lebensweg zu geben, ist eine Lage entstanden, die neuerliches Ermitteln, nämlich der Vergessenheit entreißen, geradezu gebietet. Insofern ist zu begrüßen, was jetzt Unter den Linden von einem Theater versucht wird.

Unter dem Titel „Aus einem anderen Leben Eine Ermittlung“ stellen Jochen Fölster und Oliver Reese eine Kombination von Peter Weiss-Texten aus „Die Ermittlung" sowie aus „Notizbücher", „Fluchtpunkt", „Rekonvaleszens" und „Meine Ortschaft" vor. Außerdem, und das gibt dem Abend seine aktuelle Brisanz, verwenden sie Auszüge aus dem Urteil des Landgerichts Mannheim vom 2. Juni 1994 gegen den Nazi Günter Deckert. In besagtem Urteil ist bekanntlich geistige deutsche Ungeheuerlichkeit jüngsten Datums per Justitia vor aller Welt manifest gemacht.

In dem von Hansjörg Hartung gebauten Bühnenbild, einem grau bis schwarz gehaltenen Spielraum, den der Eiserne Vorhang nach hinten zeitweilig schließt, residiert der Richter in einer Kabine. Sie befindet sich im Zentrum einer Art Kaffeehaus-Empore und ragt bedrohlich in den Zuschauerraum. Dort, von oben herab und sorgsam vom Volke abgehoben, verkündet er die Mannheimer Scheinheiligkeiten. Robert Lohr, von der Regie gut geführt, vermittelt über körperliches Sich-Winden und sprecherisches Lavieren, nicht nur die Heuchelei des Beamten, sondern auch die Gefährlichkeit des Elaborats. So stößt der Ermittlerin Schlußerkenntnis denn auf eine Betroffenheit der Zuschauer, die sich selbst bei jenen herstellt, denen nichts Neues mitgeteilt wird.

Die Leiden jüdischer Deportierter skizziert Regisseur Jochen Fölster sachlich, fast dokumentarisch. Den Angeklagten gibt er individuelle Züge. Zeugen und Angeklagte werden im Wechsel von Gundula Köster, Ruth Reinecke, Hilmar Baumann, Nils Brück, Gerd Michael Henneberg, Gottfried Richter und Eckhart Strehle sehr präzis gesprochen und gespielt.

Als Peter Weiss' Oratorium 1965 zur Uraufführung kam, beteiligten sich in seltener deutscher Einmütigkeit die Bühnen von Altenburg, Cottbus, Dresden, Erfurt, Essen, Gera, Halle, Köln, Leipzig, Lübeck, Meiningen, München, Neustrelitz, Potsdam, Rostock, Stuttgart, Weimar und die Freie Volksbühne Berlin. An der Akademie der Künste der DDR organisierten Lothar Bellag, Erich Engel, Manfred Wekwerth und Konrad Wolf eine szenische Lesung. Soviel Resonanz wird die Neufassung zu Stoff und Thema leider nicht finden. Nötig indessen, nötig wäre es.

 

 

Neues Deutschland, 12. Dezember 1994