„Schlacht um Europa“ von Christoph Schlingensief an der
Volksbühne Berlin, Regie Christoph Schlingensief
Entertainment auch mit dem Grauen
Offenbar legt Christoph Schlingensief Wert darauf, noch immer als Enfant terrible des deutschen Theaters gehandelt zu werden. Was ohne Zweifel Marktwert hat! An der Berliner Volksbühne, auf »Raumpatrouille« eine »Schlacht um Europa« schlagend, verkündet er in charmant-anarchistischer Pose Aufrufe, die geeignet sind, die derzeit amtierenden Staatssicherer auf den Plan zu rufen. Um das klar vorwegzunehmen: Politiker wie Kohl, Hintze oder Merkel theatralisch in die Pfanne zu hauen, ist nötiger denn je. Wenn die Aufschreie aber politisch in den Sackgassen der 68er Bewegung und der RAF stecken bleiben, gehört die Veranstaltung eigentlich ins Museum!
Glücklicherweise treibt den hochintelligenten Theater-Entertainer im Gegensatz zur Mehrzahl seiner Fernseh-Konkurrenten, die sich an aktueller Politik scheinheilig vorbeizumogeln pflegen, mehr um als Groll auf diesen oder jenen Politiker. Schlingensief bewegen Not und Verzweiflung der Millionen Menschen, die in Deutschland ohne Arbeit sind. Wobei er seinem Publikum mitteilt, daß Arbeitslosigkeit nur eine der sozialen Deformationen ist, an der Gesellschaft wie Menschen irreparabel kranken.
Ausgezogen war der Regisseur nach Los Angeles zu Roland
Emmerich (»Independence Day«) und Tim Burton (»Mars Attacks«), um Recherchen
einzuholen für ein Science-fiction-Projekt über Raketenstarts und
Mondlandungen. Ein Abstecher nach Peenemünde holte ihn in die deutsche
Wirklichkeit zurück. Vergeltung, V2-Rakete - die Deutschen als die eigentlichen
Väter des Irrsinns, in den Weltraum vorzustoßen, obwohl alle verfügbaren Mittel
nötig wären, erst einmal die Erde für alle - für Menschen wie Tiere - bewohnbar
zu erhalten Die Deutschen auch als Experten für den Mißbrauch der Wissenschaft.
So mixt Schlingensief, jonglierend zwischen Improvisation
und Absprache, zwischen Spiel-Spots und Filmen, in der Ausstattung Laura
Kikaukas ein pluralistisches, assoziativ reiches, allerdings durchweg
kabarettistisches Theater der Extreme. Er kann auf Spekulationen über den »Euro«,
die Währung der Millionäre, verzichten; auch auf Gemetzel im ehemaligen
Jugoslawien oder »christliche« Morde in Irland - die Realität liefert Mißbildungen
zur Genüge.
An der Rampe sitzt Ralf Fütterer im Rollstuhl, ein zur
Schau gestellter schwerst Behinderter (an den Wissenschaftler Stephen Hawkin
erinnernd) und flüstert ab und zu mühselig Witze ins Mikrophon. Neben ihm hockt
Werner Brecht in einem Sessel, den offenbar an Alzheimer leidenden
Raketenforscher Wernher von Braun vorstellend. Ihm wird Gelegenheit geboten,
sich »eine neue Existenz aufzubauen« und das Publikum anzubetteln. Mit dem
Vermerk: »Er braucht keine Arbeit, nur ein bißchen Geld!«
Widersprüche - in »Sinnsprüche« gefaßt. Hildegard Alex
wartet mit Klassiker-Zitaten auf. Da hatte die Menschheit noch ihre Hoffnung.
Bernhard Schütz serviert Dutschke-Reprisen. Da ging schon Verzweiflung um.
Sophie Rois schmettert ingrimmig: »Was soll das Geraunze von der Arbeitslosigkeit!«
Schlingensief fädelt liebenswürdig so etwas wie einen »Leid-Faden«, haut immer
wieder politisierenden Pfeffer dazu und gibt Kommentare zu Filmen. Der
Zuschauer soll entscheiden, was er widerwärtiger findet: Die grausamen
Beschneidungs-Rituale bei jungen Männern in Afrika, das genüßliche Verspeisen
der zuckenden Hirne noch eben lebender Affen, das Abschlachten der Robben, die
vergeblichen Raketen-Starts mit Feuerbällen am Himmel und entsetzten Menschen
auf der Erde. Immer wieder wird ins irritierende Bild gebracht, wie verstörend
selbstverständlich wir allesamt mit Deformationen leben. Neben uns. In uns.
Ein wahrer Jammer, daß Schlingensief sich nicht konzentrieren kann. Sein
Vorspiel im Freien ist Brimborium - es sei denn, man nimmt's als Hinweis
darauf, daß ihm die Weltraum-Spektakelei erleichtert, unverblümter über die
Bundesrepublik zu berichten. Das Einspielen von Ausschnitten des Filmklassikers
»8 1/2« von Fellini, das man auf der Hauptbühne stehend oder hockend geboten
bekommt, macht bewußt, daß die High Society ihr süßes Leben lebt, ob nun in
Peenemünde und im KZ Dora Todes-Raketen gebaut werden oder Thyssen »feindlich«
von Krupp vereinnahmt wird.
Womit ich den geneigten Besucher möglicherweise hinreichend darüber aufgeklärt
habe, daß ihn eine Art Theater-Magazin erwartet, das nach dem Slogan »Fakten,
Fakten, Fakten« gefertigt wurde. Was bedauerlich ist; denn auf dem Markt gibt
es einschlägige Journale. Im Theater lechzt das Publikum nach »Ursachen,
Ursachen, Ursachen«. Die optimistische Zahl »'89« indessen am Ende des Abends
und die große Banane als Antwort, die im Hintergrund wie Schall und Rauch
verbrennt, lassen mich hoffen, daß Schlingensief der Oberflächlichkeit der
Gazetten widerstehen wird. Denn die besorgen die Lobpreisung des Kaputten.
Neues
Deutschland, 1. April 1997