„Eyolf“ von Henrik Ibsen im Berliner Ensemble, Regie Fritz Marquardt
Die Gespenster der Vergangenheit
Klein-Eyolf, der verkrüppelte Bub, muß sterben, damit die reichen Eltern, Rita und Alfred Allmers, sich wandeln. Künftig wollen sie sich für Kinder armer Leute engagieren. Freilich ist's nur eine Absichtserklärung am Ende des Stückes und ebenso fragwürdig wie überhaupt Henrik Ibsens Schauspiel „Eyolf" aus dem Jahre 1894. Otto Brahm hatte es am 12. Januar 1895 am Deutschen Theater aufgeführt. Die Meinung war damals sehr geteilt. Franz Mehring schrieb: „Wir haben dringenden Anlaß, uns bei den Gespenstern der Vergangenheit nicht lange aufzuhalten."
Fast auf den Tag genau 100 Jahre später brachte Fritz Marquardt
das gutbürgerliche Märchen mit Corinna Harfouch als Gutsbesitzerin Allmers in einer
außerordentlich subtilen Inszenierung am Berliner Ensemble heraus. So bin ich
denn hin und hergerissen. Wegen der schwachbrüstigen, im Symbol versteckten
Botschaft eines wohl zu recht vergessenen Stückes mag ich niemanden zu einem
Besuch animieren. Andererseits verdienen Regisseur und Ensemble Zuspruch.
Da geschieht nämlich auf der Bühne etwas, was rar geworden ist in
deutscher Theaterlandschaft: konzentriertes konkretes Schauspielen. Keinerlei
nach Effekt haschende Aktionismen, keine ablenkenden, überflüssigen Gebärden, kein
affektiertes Hinwegreden über den Inhalt. Die Akteure spielen so diszipliniert
wie gelöst gestisch beredtes Theater. Nur wenige Regisseure beherrschen das
noch: Menschliche Beziehungen auf der Bühne differenziert über wechselnde
Haltungen, also über das Verhatten von Figuren zu erzählen. Und das ausgerechnet bei einem Text, bei dem der Regisseur
gewissermaßen mit der Wünschelrute vorgehen muß, um die sublimen inneren
Prozesse der Figuren überhaupt entdecken und zu körperlichem Ausdruck formen
zu können! Mit anderen Worten: Wer sozial und psychologisch genaue, den Menschen
suchende und meinende realistische Schauspielkunst mag, der wird selbst bei diesem
im Geiste Freuds ergrübelten Stück auf seine Kosten kommen.
Corinna Harfouch exponiert die reiche
Rita Allmers, die Besitzerin von „Gold" und „grünem Wald", mit
einem orgiastischen Tanz. Sehr bald versteht man: Da ist ein impulsives, seine
Leidenschaft nur schwer und ungern zügelndes junges Weib von ungewöhnlicher
Sensibilität, eine seelisch eingesperrte Frau, die ihre Sehnsucht nach
erfüllter Lust kaum, jedenfalls nur mit äußerster Anstrengung verbirgt. Ohne
Dünkel hat sie sich einen ehemaligen Hilfslehrer als Ehemann auserkoren. Doch
der ist ihrem ungestümen natürlichen Verlangen nicht gewachsen, hat gar Angst
vor ihr.
Aber da ist ein Fatum! Deshalb
scheut Alfred die Begegnungen der Liebe. Als die beiden vor zehn Jahren als
junges Paar sich einmal zu Zeit und Welt vergessendem Beischlaf hatten
hinreißen lassen, war Säugling Eyolf vom Tische gefallen. Mehring ironisch:
„Der Übel größtes ist im Grunde, daß im Hause Allmers das uralte Hausgerät
einer Wiege unbekannt ist." Seither ist der Junge gehbehindert. (Corinna Harfouchs
Sohn Robert Gwisdek spielt den neun Jahre alten Eyolf sehr präsent.) Rita empfindet
man in der Darstellung der Harfouch nicht als Rabenmutter, wenn sie das
bittere Los ihres Kindes normal zu kompensieren versucht. Im Unterschied zu
ihrem Gatten, der erst einmal hohe Berge bestieg, wo er ein Buch über die
Verantwortung des Menschen hatte schreiben wollen.
Irgendwie tragisch das alles durchaus!
Doch es kommt noch schlimmer. Alfred hat nicht nur das Buch nicht geschrieben,
was zu verschmerzen wäre, er gibt, von den Bergen zurückgekehrt, erneut nicht
genügend acht auf seinen Sohn! Eyolf, den Kopf voller Flausen übers Soldatsein,
stakt einer bizarren Rattenfängerin (Christine Gloger) hinterher, fällt in den
Fjord und ertrinkt. Nun ist der Vorwürfe kein Ende. Das tote Kind ist gespenstisch
gegenwärtig. Der Regisseur schafft es, die Vorgänge nicht ins Mystische
abdriften zu lassen, sondern real zu halten. Wobei das Spiel im sparsam
plastischen Bühnenbild Vincent Callaras immer auch etwas distanziert Zeremonielles
hat, einen - zwar leicht ironischen - Hauch von Weihe des Ausgeliefertseins
des Menschen an das Schicksal wie an seine eigenen Triebe.
Martin Wuttke spielt den Alfred, den
einem allgemeinen „Gesetz der Verwandlung" huldigenden Intellektuellen.
Er macht die Figur nicht lächerlich. Im Gegenteil, ihm nimmt man diesen
verbissen und verzweifelt nach dem Sinn des Daseins suchenden und dabei an
seiner vitalen Frau vorbeilebenden, im Grunde kleinmütig spießigen Mann ab.
Warum, möchte man fragen, sucht Alfred seelischen Ausgleich für sich und seine
Frau nicht im Versuch, ein zweites Kind zu zeugen? Antwort: Da ist noch seine
Halbschwester Asta, die ihm wie eine Mutter war und mit der ihn eine tief
innere Liebe verbindet. Margarita Broich gibt dieser Asta eine spröde Naivität,
die der Figur wie ein unerschlossenes Geheimnis innewohnt. Ihr glaubt man die
angehende Jungfer, wenn sie den treuherzigen Werbungen des rechtschaffenen
Straßenbau-Ingenieurs Borghejm (Michael Kind) tapfer widersteht.
Eine ästhetisch vortreffliche Inszenierung. Dennoch reizt
es mich, Mehrings Stoßseufzer aktuell abzuwandeln: Es gibt, hol's der Teufel,
gewichtigere Gespenster der Vergangenheit!
Neues Deutschland, 30. Januar 1995