„Fatzer“ von Brecht/Müller am Berliner Ensemble, Regie Manfred Wekwerth und Joachim Tenschert

 

 

 Stück des jungen Brecht auf der Bühne

 

Das ist der Abend des Schauspielers Ekkehard Schall. Er spielt den „Fatzer", eine schillernd widersprüchliche Figur. Ab 1927 schrieb Bertolt Brecht am „Fatzer"; 1929 notierte er sachlich, das Stück sei unaufführbar.

Rund fünf Jahrzehnte später, 1978, fertigte Heiner Müller mit einfühlsamer Akribie aus den im Brecht-Archiv bewahrten weit über 500 Manuskriptblättern eine Stückfassung, die nunmehr — im Vorfeld des 90. Geburtstages von Brecht — von den Regisseuren Manfred Wekwerth und Joachim Tenschert für das Berliner Ensemble eingerichtet und als DDR-Erstaufführung in Szene gesetzt wurde. Pflege unseres revolutionären literarischen Erbes, die Widersprüche nicht scheut, sondern produktiv zu machen sucht.

Schalls souverän darlegende Schauspielkunst provoziert denn auch zu aufmerksamer Anteilnahme — trotz einer sich weidlich dehnenden Fabel. Dem aufgeklärten Zuschauer der achtziger Jahre wird nebenher in Erinnerung gerufen, mit welch forscher Ambition und Experimentierfreude der junge Brecht seine ersten marxistischen Erkenntnisse über Klassenkampf und Krieg in streitbare szenische Skizzen faßte. Doch nicht der Blick in die Werkstatt eines Dichters war der Grund, zur Besichtigung des Fragmentes zu bitten. Wie ich das sehe, geht es um eine immerhin frappierende poetische Entdeckung menschlichen Verhaltens. Der „Untergang des Egoisten Fatzer", wie Heiner Müllers Bearbeitung den Titel präzisiert, ist nicht nur das tragische Ende eines Menschen, der ohnmächtig gegen den Krieg rebellierte.

1918 macht der deutsche Soldat Fatzer mit dem Krieg Schluß, weil er erkannt hat, daß es nicht seiner ist. Er führt drei Kameraden aus der Frontlinie nach Hause in die Stadt Mühlheim. Doch mehr als diese Abkehr vom Krieg schafft er nicht. Mit den Arbeitern, den Fleischern des Schlachthofes, prügelt er sich, und der Drang zum Weib wird ihm wichtiger als revolutionäre Tätigkeit.

Diesen Eigensinn, der progressives gesellschaftliches Handeln lähmt, attackierte Brecht. Seine Erkenntnis war ihm so wichtig, daß er die Figur vernichten läßt und damit symbolisch auch das „Prinzip Fatzer" verwirft: den egoistischen Anspruch in Zeiten, in denen solch Trachten im Interesse der Klasse und des Kampfes zurückgestellt werden sollte. Das Stück ist ein expressionistischer „Notschrei" gegen Ausbeutung und Krieg, episch-didaktisch vorgebracht. Die dabei erreichte stofflich-inhaltliche und dramentechnisch formale Verarbeitung Brechts aber läßt sich für heutige Zuschauer schwer nachvollziehen. Insofern wird die aktuelle Wirkung des Fragments umstritten bleiben.

Ekkehard Schall in der Titelrolle — das ist sehenswert. Dieser Fatzer, eigentlich Arbeiter, ist sich seines Standes kaum bewußt. Mühsam, schwerfällig ringt er darum, sein Leben zu begreifen, Chaos und Krieg zu durchschauen. Doch er kommt aus dem Trieb- und Gefühlswust des anarchischen Lumpenproleten, der er geworden ist, nicht heraus. Schall spielt diesen Mann, der rechthaberisch orakelt, aber praktisch in Tatenlosigkeit versinkt, aus kritischer Sicht. Die komplizierten, spröden Vers-Rhythmen spricht er ohne jede Manier mit klarer, sinnenkräftiger Verständlichkeit. Ein gelöst und genußvoll produzierender Schall wie lange nicht.

Hier liegen Verdienste der Regie, die auch andere Darsteller sicher führt. Arno Wyzniewski als der rationale, klarer als Fatzer sehende und handelnde Koch, Hans-Peter Reinecke als müder, verbrauchter Kaumann und Martin Seifert als naiv-lavierender Büsching. Überzeugend, mit schöner Ausdruckskraft, Kirsten Block als Therese Kaumann.

Rainer Böhms Musik bringt gedankliche und emotionelle Helligkeit ein. Das Bühnenbild von Wieland Förster hingegen — geborstene Eisenbahnschienen von der Bühnenmitte bis an den Zuschauerraum — hat die Schwergewichtigkeit von Inszenierung und Bearbeitung. Das scheint nun das Problem der Inszenierung zu sein: Nicht mehr das Fragment eines suchenden, modellierend drängenden jungen Dichters wird gespielt, sondern ein als klassisch empfundener „Wurf" Brechts aus der Hand des reifen Müller.

Die Chor-Passagen haben satte Abgeklärtheit statt Frische und Unfertigkeit junger Erkenntnis, und Weitschweifigkeit kommt auf, wo unverbrauchte Widersprüchlichkeit die Wirkung bestimmen könnte. Die erzählende Brillanz des sozialen Gestus und der konkreten Geste, wie sie Schall meisterlich beherrscht und wie sie am Berliner Ensemble bewahrt wird, braucht — wie sich zeigt — auch Bewegung. Sie muß sich in ihren didaktischen Absichten dem reicheren Wissen und der flexibleren Denkfähigkeit des heutigen Zuschauers bewußter stellen.

 

 Neues Deutschland, 23. Juni 1987