„Faust I“ von Goethe an den Münchner Kammerspielen, Regie Dieter Dorn

 

 

 

„Faust“ bajuwarisch als Volkstheater

 

Noch eben hatte sich Dieter Dorn als subtiler Regisseur des „Schlußchores" von Botho Strauß vorgestellt (Theatertreffen Berlin 1991), jetzt gastierte er mit einem bajuwarischen, zu deftigem Volkstheater gedrechselten „Faust I" (Münchner Kammerspiele) im Berliner Deutschen Theater.

Schon die vom Mond beschienene Zueignung (Rolf Boysen) ließ den durchweg theatralen Gestus ahnen. Direktor (Helmut Stange), Dichter (Rolf Boysen) und Lustige Person (Axel Milberg) bestätigten: Hier wird eine Parodie versucht und zugleich rechtschaffen und gekonnt konventionelles Theater gemacht. Mit einer aufgesetzten Jazzmusik (Roger Jannotta) als Pausenfüller.

Filigrane Ironie immerhin beim Himmels-Prolog. Martin Flörchinger als selbstgefälliger Herr mit Hofstaat. Die Engel wissen stets schon vorher, welche Sprüche der Chef mal wieder klopft. Das hat Art, hat Humor, macht neugierig. Auch die Verwandlung vom Reich des Herrn in die kleine Guckkasten-Welt der Faust-Story (Bühnenbild Jürgen Rose): Ein dunkles, mit Galaxien verziertes Himmelszelt umrahmt eine giftig gelbe Schachtel, den Ort des Erdendaseins des Wissenschaftlers Faust.

Der Gelehrte führt sich in der Gestaltung Helmut Griems ein als ziemlich alter Herr, den rüstige Aufmüpfigkeit umtreibt. Im Disput mit Axel Milberg, der als Wagner ausgezeichnet gestisch zu sprechen vermag, wird freilich die rundum theatrale Weise dieses Faust schaubar. Dessen Erkenntnisdrang nach dem, was die Welt im Innersten zusammenhält, bleibt rhetorische Floskel. Und Romuald Peknys Mephistopheles hält mit: ein eitler, großväterlicher, allgemein posierender Bösewicht.

Wenn ich mich - was nicht zu vermeiden ist - der Inszenierungen erinnere von Adolf Dresen und Wolfgang Heinz am Deutschen Theater Berlin, von Christoph Schroth in Schwerin und von Wolfgang Engel in Dresden, dann überrascht im nachhinein, wie nachhaltig und erfolgreich diese Regisseure damals in Goethes Text den natürlichen, den sozialen Gestus suchten, und wie unbekümmert Dorn jetzt einfach theatert. Nun ist letzteres kein Frevel, bitteschön. Aber darauf hingewiesen sollte schon werden.

Dorns theatrale Einfälle verblüffen. Den Osterspaziergang liefert er als Folge von statuarischen Momentaufnahmen, wobei jeweils die Figuren in Bewegung geraten, die etwas zu sagen haben. Das ist possierlich und beredt, aber zeitraubend und Zusammenhänge zerhackend. Ähnlich inszeniert er Marthes Garten. Auerbachs Keller wird gespielt als eine Wein-Orgie im Münchner Hofbräuhaus. Vierschrötige, bierknödelige Senioren polieren sich die Fressen.

Ausgespielte Szene. Der greise Faust ist scharf auf die nackte vollbusige Lilith im Spiegel der Hexenküche. Der durch Zaubertrunk zum strammen Kerl verjüngte Faust steigt prompt aus dem Guckkasten auf die Straße und greift sich Margarethe. Die macht bei Sunnyi Melles gute Figur. Aber die Darstellerin findet kaum einen natürlichen Ton. Vielleicht beim Aufschreien. Ansonsten gespreizte Manier. Wie auch bei Mephisto immerfort. Direkt, unmittelbar ist Cornelia Froboess als Marthe.

In den Gretchen-Szenen steht eine monumentale Mutter Gottes herum, die mit grimmigem Blick strafend auf die Leut' herabschaut. Am Ende erstickt sie mit übergroßen Pranken die bei ihr Rettung suchende Margarethe. Eine bestürzend aktuelle Sicht auf dieses Frauen-Schicksal. Aber damit ist die geistige Virtualität der Inszenierung auch schon erschöpft. Freilich zugegeben: Ich lebe nicht in Bayern.

 

 

 

Neues Deutschland, 10. Juni 1991