„Faust I“ von Goethe am Volkstheater Rostock, Regie Bernd Renne

 

 

 

 

Spiel um Aufbruch und Enttäuschung

 

Der Erdgeist, ein ruppiger, stelzfüßiger Geselle, schreitet einfach über ihn hin. Du gleichst dem Geist, den du begreifst! Dennoch ist Goethes „Faust" am Volkstheater Rostock sozusagen im Aufbruch. Ein enttäuschter alter Herr zwar, reif für den Ruhestand, doch rüstig noch. Die zwei Seelen in seiner Brust haben sich längst getrennt. Er sehnt sich unverblümt nach neuem, buntem Leben.

Drum läßt er sich gern mit dem Teufel ein. Er flucht herzhaft der höchsten Liebeshuld, der Hoffnung, dem Glauben und vor allem der Geduld. Stürzen will er sich ins Rollen der Begebenheit. Der Menschheit Krone sucht er zu erringen. Da klemmt Mephistopheles den Enthusiasten ernüchternd erst einmal zwischen eine umgefallene Stehleiter.

Direkt, drastisch und unmittelbar geht es zu, legitim für ein Volkstheater. Regisseur Berndt Renne hat eine gute Hand, mit Goethes Versen ins Spiel zu kommen. Er tüftelt sie nicht intellektuell auseinander, sondern nutzt ihre geistige Dynamik. j

Er nimmt deklamatorische Klänge in Kauf, betont die Sentenzen, auf die es ihm ankommt. Und er erfindet plastische Aktionen, manchmal auch schattenspielartig, im Guckkasten weggerückt, aber stets übersichtlich, auch von einem jugendlichen Publikum nachvollziehbar (ich sah die 3., eine Schülervorstellung).

Eingestimmt werden die Zuschauer mit einer elegischen Zueignung. Gabriele Möller-Lukasz sitzt auf einer Schräge (Bühnenbild Monika Wibmer), in ein weites, sich gleichsam in der Ewigkeit verlierendes Gewand gehüllt. Die schwankenden Gestalten, die sie beschwört, kommen aus fernen Tiefen, aus dumpfer Ungewißheit. Ein heller, magischer Kreis auf einem Vorhang hinter ihr wandelt sich zum Erdenrund, das die Erzengel mit Ferngläsern betrachten.

Derweilen ißt ein glatzköpfiger, schwerfällig hinkender Mephistopheles gelangweilt einen Apfel. Ein väterlicher himmlischer Herr, auf dem Rang postiert, gestattet ihm den Zugriff auf den Doktor.

Partout sind Faust (Manfred Gorr) und Mephistopheles (Peter Pagel) zwei ebenbürtige Partner. Der eine menschlich darauf erpicht, das Leben auszukosten. Der andere teuflisch bemüht, ihm dabei behilflich zu sein. In der Hexenküche wirft er dem Gelehrten die Welt hin. Und die vitale junge Hexe (Gabriele Möller-Lukasz) mit ihrem Naschsaft strengt sich sichtlich an beim Hexen-Einmaleins. Der verjüngte Faust greift dreist nach Magarethe, hält sie fest. Felizitas Ott gibt ein herbes, sprödes Jungfräulein, das scheu aus sich herausgeht, als es den König von Thule als Jazz-Improvisation serviert. Keine Sentimentalität also, aber auch keine ansteckende Lebendigkeit. Die Kerkerszene verunglückt. Die Wechsel zwischen hellwacher, heiliger Anklage gegen Faust und hektischem, umnachteten Wahnsinn, von der Regie als dramatischer Höhepunkt konzipiert, sind zwar gesetzt, aber nicht gemeistert.

Im übrigen hat Mephisto Herrn Faust unüberhörbar auf die Grenzen seines Witzes aufmerksam gemacht. Dieser Mann versucht noch redlich, auch handgreiflich, Magarethe, seine Liebe, zu retten. Als es mißlingt, ist alles vorbei. Faust erneut gealtert. Brummelnd geht er ab, endgültig enttäuscht von dieser Welt.

 

 

Neues Deutschland, 30. September 1991