„Faust“ von Goethe am Schiller-Theater
Berlin, Regie Alfred Kirchner
Mephistopheles hat Faust voll im Griff
Goethes Faust am Berliner Schiller-Theater
gibt Christian Grashof. Zwischen zwei kahlen, torfigen Hügeln schreitet er
herein und kratzt mit Kreide einen magischen Drudenfuß auf die Bühne. Er tut
dies ingrimmig wie ein offenbar zum Äußersten entschlossener Mensch. Dann fällt
er auf die Knie nieder und hebt an: „Habe nun, ach!"
Noch nie sah ich Faust in dieser Szene als solch elementar verzweifelte Kreatur. Nur zu verständlich sein Schritt zur Magie. Die Erniedrigung durch den Erdgeist dann (Bernhard Minetti mit waltender Unendlichkeit in der Stimme) erdrückt ihn schier überhaupt. Entsetzlich einsam, in tiefer Resignation antwortet er dem ahnungslos-neugierigen Wagner (Hans-Peter Korff). Er gähnt gar, wenn er von den Verbrannten spricht, die umgebracht wurden, weil sie eine Lippe riskierten. Das regt ihn nicht mehr auf. Welch anderes Los als ebendieses kann ein erkenntnishungriger Intellektueller auf der Welt erwarten! Faust hat keine Illusionen. Er greift zur Todes-Phiole. Die Engelsstimmen ertönen. Die Erde hat ihn wieder — und auch das Publikum.
Aber welch überraschende Einförmigkeit
in „Faust I." nun! Der Typ ist markiert! Und den großen tragischen Ton,
mit dem Grashof situationsgerecht angetreten, variiert er nur noch. Da er unter
Alfred Kirchners Regie vier Stunden lang im Grunde keine Vorgänge zu spielen
hat, sondern nur den elenden Zustand des vom Teufel erbarmungslos malträtierten
Gelehrten, verfestigt er sich immer nachhaltiger zum Tragöden, der sein Pensum
theatral perfekt abarbeitet.
Das paßt schlecht und recht in die
märchenhaft kunterbunte Szenerie von Rosalie, der Bühnenbildnerin und
Kostümerfinderin. Sie hat mit Goethe wenig im Sinn. Und der Schauspieler ist
ihr Staffage. Faust immerhin stattet sie realistisch mit einem abgetragenen
Bürgergewand aus, mit Weste und schlumpiger Hose. Und Mephistopheles kleidet
sie als saloppen Naturburschen, verziert mit verkrüppelten Engels-Flügelchen
auf der Schulter und einem Krallenfinger an der rechten Hand. Das übrige
Personal jedoch scheint geradewegs aus einer Schickimicki-Boutique zu kommen.
Es wirkt wie giftige Farbtupfer auf den verkahlten Hügeln.
Anscheinend versucht die
Bühnenbildnerin, den Gegensatz zwischen geschundener Natur und pervertierter
Zivilisation bildnerisch ins Spiel zu bringen. Womit sie aber dem Regisseur
kaum hilft, Alfred Kirchner möchte dem ewigen Konflikt zwischen Mensch und ihn
beugendem Schicksal eine aktuelle Variante abgewinnen. Und er
setzt sich durch. Trotz zuständlichem Spiel. Trotz Rosalie. Er vermittelt:
Faust hat keine Chance.
A priori hat Kirchners rustikaler
Mephistopheles den Faust voll im Griff. Er zwingt ihn gewaltsam zum blutigen
Pakt. Der Gelehrte bäumt sich, lange hält er verstört die schmerzende Hand. In
der Hexenküche ist ihm das Verabreichen des Trunkes eine höllische Tortur.
Freilich leider ergebnislos. Der Mann bleibt nämlich ältlich betulich. Womit dem
Stück endgültig jede Entwicklung genommen ist. Statements lösen einander ab.
Greinend verkriecht sich der verliebte
Faust unter Margaretes weißen Küchenstuhl. Wenn er sie schließlich lüstern
abtastet, was sie naiv-geduldig geschehen läßt, zittert er erheblich. Mephisto reißt
ihn aus Gretchens (Therese Hämer) Armen, treibt ihn gegen Bruder Valentin (Joachim Schönfeld), hindert ihn zur Walpurgisnacht
brutal, seine Geliebte zu schauen.
Vordergründige Zeichen dann: Mephisto
legt seinen Teufelsschwanz ab, den Klumpfuß und den Mantel. Dann räsoniert er prononciert
über „die Welt auch auf der Neige". An Gretchens Kerker tritt ein
ausgehöhlter, erstarrter Faust. Der Teufel eilt geschäftsmäßig herzu, ergreift
den Zerquälten unerbittlich und zeigt triumphierend das blutige Pakt-Papier.
Eindrucksvolle szenische Momente. Durchaus.
Viele Tätlichkeiten. Gewiß. Aber philosophischer Kampf, existentielles Ringen
finden auf der Bühne — hol's der Teufel — eigentlich nicht statt. Das
Menschliche ist wie gelähmt. Das Faustische ohnmächtig gegenüber dem
Teuflischen. Das ist ein im hiesigen Leben sehr wohl möglicher Zustand. Aber
Alltag ist nicht Kunst. Auf dem Theater braucht es von Realität durchdrungene
Auseinandersetzung bis in die kleinste Szene. Etwa wie Marthe (Angelica
Domröse) den zwar zu Tode verletzten, aber noch verleumderischen Valentin
kurzentschlossen herzhaft ohrfeigt.
Der Mephistopheles, den Hilmar Thate
gibt, ist hier eher ein Knecht des Erdgeistes. Jedenfalls stößt er aus dem
Torfboden ins Geschehen vor und bleibt ein spöttisch flink, gelegentlich auch ausdrucksarm
agitierender Teufelsgeselle von niedriger Kategorie. Seinen verkrüppelten Engelsflügel
stopft er eitel ins Jackett, wenn er mal Anzug trägt. So er zu singen anhebt,
kräftig, ironisch, ist zu ahnen, von welch diabolischem Format dieser Kerl sein
könnte.
Buhrufe vom Rang, Bravos aus dem
Parkett. Allerhand Beifall.
Neues
Deutschland, 25. Oktober 1990