„Fegefeuer in Ingolstadt“ von Marieluise
Fleißer im Maxim Gorki Theater Berlin, Regie Lore Stefanek
Das Rudelgesetz in freundlichen Bildern
Neue Gesichter auf Berliner Bühne. Im Maxim Gorki Theater, in Lore Stefaneks Inszenierung der Tragikomödie „Fegefeuer in Ingolstadt" von Marieluise Fleißer, einer Gemeinschaftsproduktion mit der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch", melden sich interessante Begabungen. Frisch, selbstbewußt, durchweg präzis, ästhetische Gestalt suchend - wie einst die junge Autorin.
Marieluise Fleißer (1901-1974), Tochter eines
Eisenwarenhändlers in Ingolstadt, schrieb mit 22 Jahren als Studentin der
Theaterwissenschaft. Ihr Stück sei, sagte sie, aus dem „Zusammenprall" ihrer
„katholischen Klostererziehung (6 Jahre Internat im Institut der englischen
Fräulein in Regensburg)" und ihrer „Begegnung mit Feuchtwanger und den
Werken Brechts entstanden". Das habe „sich nämlich nicht miteinander
vertragen".
Ihr Drama über „eingeimpfte Religion, die
junge Menschen wie einen Fremdkörper abstoßen möchten", über „das Rudelgesetz
und die Ausgestoßenen" (Fleißer), zeigt junge Leute in dumpfer katholischer
Kleinbürgerwelt. Sie tragen religiöse Fesseln, ohne sich ihrer bewußt zu
werden. Am ehesten rüttelt Olga daran, die Gymnasiastin. Roelle, der junge
Mann, der mit Schwarmgeisterei um Anerkennung bei seinen Altersgenossen buhlt,
fühlt sich zu ihr hingezogen. Aber die Tochter des Witwers Berotter narrt ihn.
Die bekommt von Peps, einem Freund, ein Kind. Der pfeift auf sie, leiert sich
mit Hermine. Eifersucht. Haß. Rivalitäten. Gruppierungen. Jugendliche finden
sich zu Rudeln, drangsalieren Außenseiter, machen sie zu Ausgestoßenen.
Brisant sofort dort, wo zum Aufwachsen in kleinstädtischen Verhältnissen
soziale Perspektivlosigkeit kommt. Ein aktueller Vorgang in deutschen Landen.
Insofern war es naheliegend, das
Stück mit jungen Darstellern aufzuführen. Am Berliner Ensemble hatte es Axel
Richter 1987 mit gestandenen Schauspielern als surrealistisch interpretiert.
Lore Stefanek nimmt es pur, betont das humanistische Anliegen. Sie aktualisiert
nicht, ortet das Geschehen deutlich in den 20er Jahren. Vor allem die Kostüme (Stephanie
Geiger) lassen da keinen Zweifel aufkommen. Das Bühnenbild (Martin Kukulies)
verhält sich zeitlos, gibt assoziativ apart die Kleinstadt, aber einen
Spielraum, der nicht einsperrt, sondern Entfaltung zuläßt. Für ein freundliches
Soziogramm. Die Regisseurin zeichnet die Figuren liebevoll, deren Bigotterie
verhalten, spitzt allerdings gelegentlich spöttisch zu. Roelles religiös
aufgezäumtes Ritual zur Beschwörung der Engel auf dem Jahrmarkt beispielsweise
ist eine Parodie histerischer Mutter-Gottes-Prozessionen. Die Atmosphäre der
Dichtung bringen so werktreu wohl nur junge Darsteller ein. Dabei lässt ihnen Lore
Stefanek viel Gelegenheit, sich auszuspielen.
Neue Gesichter also. Tilo Werner, ein schmächtiger, rationaler
Typ, gibt den Roelle als ein armseliges Kerlchen, ihn leicht karikierend als getrieben
von einem eitlen Eifer. Arroganter Stolz und schlimme Demütigung in ständigem
Wechsel. Anja Marlene Korpiun spielt eine spröde Olga, ein junges Fräulein, das
seine soziale Herkunft abschütteln möchte, aber chancenlos ist. Katja Jung als
ihre Schwester zeigt eine unbeholfen eifersüchtige Clementine; Heiko Raulin
als ihr Bruder ist ein etwas ungelenk-mobiler Christian. Victor Calero: ein
blasierter Peps. Ursula Doll: eine sensibel-kapriziöse Hermine. Als
Ministranten leben sich Harry Schröpfer und Martin Reik aus.
Bei den „Individuen" Protasius (Robert Lohr) und
Gervasius (Thoms Schmidt) hatte die Regisseurin kein Zutrauen zu ihrer Idee,
die sie nur andeutet, daß da nämlich dem Roelle neben Olga und Clementine auch
zwei Schwule nachsteigen. Sie griff auf die Version zurück, mit der der ohne
Zweifel frappierende Realismus der Fleißer schon zur Uraufführung 1926 an der
jungen Bühne kaschiert wurde, indem man die Gestalten zu Clowns verfremdete. Deftig
real: Ulrich Anschütz als Vater Berotter und Ruth Reinecke als Mutter Roelle.
Rundum ein schöner Erfolg für Theater und Schule.
Neues
Deutschland, 23. Mai 1995