„Ein Fenster zur Straße“ von Jean-Claude Grumberg im
Renaissance-Theater Berlin, Regie Ulrike Jackwert
Erschießungen beim Frühstück
Eine Familie kampiert in ihrer halb zerschossenen Wohnung. Das Fenster ersetzt den Fernsehapparat. Man kann die Kämpfe zwischen rebellierenden „Zukurzgekommenen" und Regierungstruppen live verfolgen. Nachbarn, die ein Fenster in den Hof haben, beobachten jeden Morgen die dort stattfindenden Erschießungen von Gefangenen. Ein Untermieter, dessen Zimmer das Militär requiriert, beansprucht Platz in der Wohnung. Zwei Soldaten nisten sich ein und machen das Heim mit ihrem Maschinengewehr zum Gefechtsstand. Stinknormaler, gewöhnlicher Bürgerkrieg. Daran mangelt es bekanntlich nicht auf dieser Erde, auch nicht in Europa.
Was mich am meisten bestürzt an dieser brandaktuellen
Farce „Ein Fenster zur Straße" von Jean-Claude Grumberg, ist, daß sie der Franzose
bereits 1968 schrieb. Wenn das Berliner Renaissance Theater das Stück heute bringt,
ist das eine mutige Entscheidung. Begrüßenswerte Kritik menschlichen Irrsinns. Ein
Teil des Publikums jedoch, der in diesem Haus vor allem den Alltag vergessen
machende Unterhaltung erwartet, wird die makabren
Vorgänge nicht sehen wollen, so ironisiert auch immer sie vorgeführt werden.
Und: Selbst bei dem, der dem Unternehmen gewogen ist, drängen sich künstlerische
Bedenken vor.
Die Aufführung ruft die verbrecherischen Auseinandersetzungen
ins Bewußtsein, die sich seit Jahren im ehemaligen Jugoslawien zutragen. Die Kriegstreiber
und gar die Waffenlieferanten bleiben im Hintergrund, der
kleine Mann darf den Kopf hinhalten. Ob ein Krieg von Aufständischen oder ein
Krieg zwischen aufgehetzten Volksgruppen - die Leidtragenden sind immer die unschuldigen,
eigentlich unbeteiligten Bürger. Grumberg komprimiert diesen Wahnsinn. Sein
demoliertes Wohnzimmer ist wie ein Brennspiegel. Doch eben hier wird's problematisch:
Die Mischung von über Menschen hereinbrechendem Schicksal und ohnmächtigem Versuch,
heil davonzukommen, ist objektiv nicht komisch, allenfalls tragisch. Bringt
man derlei dennoch als „Spaß" auf die Bühne, muß man damit rechnen, daß
verrohte Damen und Herren unter den Zuschauern lauthals lachen, wenn
abgestumpfte Menschen scharf darauf sind, sich morgens beim Frühstück
Erschießungen unschuldiger Menschen anzusehen. Ob man will oder nicht: Hier
verwischen sich die Grenzen zwischen eigentlich gewolltem Protest und
ungewollter geistiger Gewöhnung an solche Verbrechen. Es ist das kein Mangel der
Inszenierung von Ulrike Jackwert. Etwa weil sie die besondere Stoßkraft
solcher Farce nicht zu bedienen wußte. Im Gegenteil. Sie versucht gegenzuhalten,
montiert musikalische und gesangliche Kommentare, beispielsweise den Ruf nach
einem Retter, Lohengrin, den Gralsritter. Aber der verteufelte ästhetische
Widerspruch der Unternehmung ist damit nicht von der Szene.
Gewiß, in unseren modernen Zeiten,
die uns fast jeden Tag per Fernsehen Bilder terroristischen Grauens ins Wohnzimmer
liefern, kann uns scheinbar schon gar nichts mehr erschüttern. Zumal wir ja
eben doch die feste Hoffnung in uns tragen, die Vater Paul (Günter Junghans) in
der Farce ausspricht, daß wir in einem zivilisierten Land leben, wo bestimmte
Dinge einfach nicht mehr passieren können. Daß wir uns nur nicht täuschen! Ist man
aber erst einmal bei dieser Befürchtung angelangt, möchte man fast dankbar sein
für alle Versuche, derlei unmenschliche Geschehnisse abzuwehren, also auch
für solche des Theaters. Die Truppe am Renaissance Theater, zu der u. a. noch
Barbara Schmied, Peggy Lukac, Ursula Karusseit und Horst Schultheis gehören, versucht's
sehr engagiert.
Neues
Deutschland, 16./17. März 1996