„Kein Runter kein Fern“ von Ulrich Plenzdorf
am Deutschen Theater Berlin, Uraufführung, Regie Michael Jurgons
Tragisches Kinderschicksal als Spiegel einer
unheilen Welt
Ein Trauma des Volkes löst sich. Auch mit Hilfe der Bühne, mit Hilfe der Dramatiker dieses Landes: Was Ulrich Plenzdorf 1974 schrieb und was seither hier unterdrückt war, sein Hörspiel-Text „Kein Runter kein Fern", ist so bestürzend aktuell, daß die Entscheidung des Deutschen Theaters Berlin nur zu verständlich ist, daraus so schnell wie möglich eine Uraufführung zu machen.
Der Autor von „Die neuen Leiden des jungen
W." und „Die Legende von Paul und Paula" entwarf — das Bibelmotiv von
Kain und Abel verwendend — ein Familiendrama nach Ereignissen vom 7. Oktober
1969.
Damals, am 20. Jahrestag unserer Republik,
ging das Gerücht, jenseits der Mauer auf dem Springer-Hochhaus solle ein Extraauftritt
der Rockformation Rolling Stones stattfinden. Fans aus unserem Teil der Stadt
hatten davon erfahren, waren nach Berlin-Mitte geströmt — und mußten
Bekanntschaft mit den Sicherheitskräften machen. Provokation hin, Provokation
her. Immerhin verläuft bei Springer eine Staatsgrenze. Und es bleibt die
historische Wahrheit: Nicht der Osten hat Deutschland gespalten. Außerdem: Der
kalte Krieg war heiß.
Aber das noch heute Bestürzende: Wie ging die
„Obrigkeit" damals gegen musikbegeisterte junge Leute vor! Und das Trauma:
Die Art des Umgangs mit den Bürgern war kein Zufall, sondern Ausdruck
stalinistischer Machtstrukturen. Im November 1989 hat das Volk diese aufgebrochen
und inzwischen zerbrochen. Nun müssen sie auch geistig überwunden werden.
Plenzdorf, der in seinem Stück neben der
vierköpfigen Familie Fleischmann nur wenige Personen einführt, gelingt ein
menschliches Psychogramm von beklemmender Realistik. Da ist Abi, ein Junge von
etwa zehn Jahren. Er ist nicht übermäßig intelligent, leicht sprachgestört.
Verantwortliche urteilen: Sein Auffassungsvermögen reicht nicht für die normale
Schule, er muß in die Hilfsschule, was ihn seelisch belastet.
Zu Beginn des Stückes hockt Abl im Kinderbett
vorm Fernseher, um sich die Truppenparade anläßlich des Jahrestages anzusehen.
Sie wird von einem Tribünensprecher kommentiert (Bernd Stempel: ironisch
hymnisch, sehr präzis). Während Abi die Demonstration verfolgt, reproduziert
seine junge, krause Phantasie Erinnerungen, Assoziationsfetzen aus seinem
schwierigen Leben mit der Schule, mit Mutter, Bruder und Vater. Es enthüllt
sich ein makabres Bild.
Genosse Fleischmann ist leitender
Mitarbeiter, offenbar bei der Sicherheit. In der Familie daheim muß die Welt
auf Biegen und Brechen so geordnet sein, wie er es möchte. Er scheint der Konziliantesten
einer und führt doch ein erbarmungsloses Regime. Abi zwingt er mit dem Verbot:
kein Fernsehen, kein Runter auf die Straße gnadenlos zu Leistungen, die dieser nicht
erbringen kann. Und Manfred, der ältere Bruder (Karl Kranzkowski) — ein
umgänglicher Kerl an sich, der bei der Polizei ist —, taktiert listig innerhalb
der Familienhierarchie. Er tyrannisiert Abl auf seine Weise. Dazwischen
aufgerieben wird die Mutter. Sie flüchtet in den Westen. Aber der Vater kann einfach
nicht darüber nachdenken. Er ist geistig blockiert gegenüber der Wirklichkeit.
Er kann nur immerfort doktrinär voluntaristisch argumentieren und kommandieren.
Zu welch erbärmlicher Borniertheit eines an sich intelligenten Menschen das
führt, spielt Horst Lebinsky exzellent.
Der Schauspieler betritt die Szene stets ganz
unscheinbar. Den Text bringt er temperiert, moderato, angemessen wohlanständig.
Er zeigt einen Mann, nicht von Welt, aber von Benehmen. Seine Gesten sind
klein, knapp, locker scheint es. Bald jedoch wird sichtbar, sie sind verklemmt,
verkrampft. Dieser Vater steckt in einer Zwangsjacke — und weiß es nicht.
Plötzlich, unvermutet, brechen Aggressionen hervor. Von der Frau (Heidrun
Perdelwitz: sanft, gütig, mütterlich), die sich nur mit wilden Schlägen zu
erwehren vermag, läßt er sich zunächst prügeln, dann quält er sie kalt, wie nebenbei.
Die Brüder hetzt er im Grunde aufeinander. Abl schenkt er Boxhandschuhe, obwohl
er wissen müßte, daß der seinem Bruder absolut unterlegen ist. Als sie sich
boxen, schaut der Vater zu wie bei einem Ritual.
Spätestens hier muß von der Regie gesprochen
werden. Michael Jurgons fand mit ästhetischem Spürsinn einen fast
dokumentarischen Gestus und einen sachlichen Ton für den Text, der sich im
übrigen unter seiner Hand als überraschend theaterwirksam erweist. Ich wurde an
Peter J Handkes Hersage-Stück „Kaspar" erinnert (Gastspiel des Mühlheimer
Theaters an der Ruhr in Leipzig). Aber Handkes Text entzieht sich der Bildhaftigkeit,
während der Plenzdorfs dazu provoziert. Die anfangs seltsam anmutenden Satz-
und Wortverkürzungen spiegeln eine geistige Verkrüppelung, die Lebinsky
stilsicher — ausgelassene Silbe für ausgelassene Silbe — geradezu plastisch
macht, wie es auch Lutz Schneider gelingt, der den Abl spielt.
Den Jungen könnte ein Darsteller als debil
zeigen. Die zerbrochenen Sätze, die Abl spricht, würden das
zulassen. Schneider gibt eine gedemütigte Kreatur, ein liebebedürftiges Kind — einen
normalen Burschen, würde er normal behandelt. Wenn Erwachsene auf ihn einreden,
kriegt er den Mund nicht auf, sobald er allein ist, schreit er seinen Kummer
heraus — und seine bescheidene Sehnsucht: Rolling Stones hören. In natura. Also
macht er sich auf den Weg, gerät so in sein Unheil.
Die Polizeiaktion wird — wie schon der
Boxkampf — von der Regie zu einem symbolischen Ritual verfremdet, dagegensetzt eine
kurze satirische Reminiszenz an verordnete Demonstrationen. In relativ
zeitloser, Verschleiß und Beschmutzung assoziierender Kleidung (Kostüme: Robert
Wendel) agieren forsche Typen in Gläubigkeit. Dann treffen die Brüder
aufeinander. Hinter ihnen, vor gleißend rotem Grund, als dunkle Silhouette
abgehoben (Bühne: Robert Wendel), steht der Vater. Er hat beide Hände erhoben,
als ob er das Geschehen aus Distanz absegnet. Der Polizist knüppelt seinen
Bruder nieder, nimmt den Zusammengebrochenen dann verzweifelt in die Arme,
drückt ihn an sich ...
Das Wort Zeittheater bekommt einen neuen
Klang und eine neue Bedeutung.
Neues
Deutschland, 16. Januar 1990