„Die Festung“ von Werner Buhss in den
Kammerspielen des DT Berlin, Regie Bernd Weißig und Christian Steyer
Herausforderung an die eigene Phantasie
Den Spielort beherrscht Ausstatter Eberhard
Keienburg. Er baute für Werner Buhss' Schauspiel „Die Festung" als
martialisches Gebirgsfort Bastiani eine Art Burgverlies auf die Bühne der
Kammerspiele des Deutschen Theaters. Bis in Mannshöhe ist diese Kasematte
schäbig dunkelblau gefliest, darüber blättert alternde Farbe von den hohen
Wänden. Metallene Treppen, an ein Gefängnis erinnernd, führen verquer auf und
ab. Von oben leuchtet unberührt und unverdrossen ein strahlend blauer Himmel
herab, tags mit lieblichen Schäfchenwolken verziert, nachts mit blitzenden
Sternen. Und ein Tor ist da im dunklen Gemäuer mit Durchblick auf eine romantisch-gleißnerische,
auch gefährlich-ungewisse zerklüftete Gebirgslandschaft. Durch das Portal
schiebt sich das Eis eines tauenden Gletschers. Wasser plätschert daraus
hervor.
Merkwürdig — das offene Tor wird nie benutzt.
Zwar ist es im Vorspiel der Eingang zur Kneipe, wo Leutnant Drogo den Weg zur Festung
erfragt. Doch dann, wenn die Begebnisse des einödigen Alltags auf der Festung
Bastiani ablaufen und die Militärdienst leistenden Offiziere über ihr Da- und
Sosein meditieren, spielt das Tor keine Rolle. Keienburg montierte es in die
Festung, um den Metapherncharakter der Geschichte sozusagen unübersehbar sinnfällig
zu machen. Hier begibt sich nur scheinbar ein reales Geschehen, hier waltet
kreative Phantasie und mischen sich widersprechende Daten der Realität zu einem
ästhetischen Vexierbild.
Werner Buhss schrieb sein Stück nach Motiven
des Romans „Die Tatarenwüste" des kafkaesken italienischen Erzählers, Dramatikers
und Malers Dino Buzzati (1906-1972) aus dem Jahre 1940. Faschismus .und Krieg, von
Buzzati nie unmittelbar angesprochen, bestimmten die surrealistische Atmosphäre
des Romans, erklären des Autors Zweifel an das Gute und Moralische im Menschen.
Die vor der Bergfeste weithin sich ausbreitende Wüste, über die ein imaginärer
Feind, die Tataren, hereinbrechen könnte, wird zur fatalistischen Motivation
für die Festungsmannschaft, trotz ungeheurer Einsamkeit tatenlos und wartend auszuharren
— und ihr Leben verrinnen zu sehen.
Buhss griff Buzzatis Grundmuster auf, hob die Vorgänge aber in andere
Bedeutungen. Ihm ist, finde ich, ein eigenständiges Stück gelungen, bei dem das
Kafkaeske irgendwie nur noch Arabeske ist und Menschliches realer zur Sprache
kommt. Bei ihm stirbt Leutnant Drogo nicht nach Jahrzehnten des entseelenden
Sichbeugens unter ein stupides Militärreglement. Bei ihm wird Drogo geläutert —
ein potentieller kommender Held. Das Schicksal seines Kameraden Augustino
rüttelt ihn auf. Augustino war möglicherweise — Buhss läßt das offen — aus
drängender Neugier zu den imaginären Tataren übergewechselt und hatte, zurückkehrend,
den Tod gesucht. Dieser schier unfaßbare Schritt trifft Drogo elementar. Noch
handelt er zwar nicht, aber er denkt neu nach über die Gesellschaft, in der er
lebt.
Die Geschichte ist vielfältig interpretierbar, dem Zuschauer viel assoziativer
Spielraum gelassen, worin sich der eine oder andere wohl auch verirren mag. Die
Regisseure Bernd Weißig und Christian Steyer schränken die Möglichkeiten
jedenfalls nicht ein, was heißt, sie bleiben dicht am Text. Gelegentlich setzen
sie leicht groteske Akzente, zum Beispiel, wenn sich Jan Josef Liefers, der den
Drogo spielt, merklich unreal bewegen muß. Gelegentlich drängen sich
Naturalismen vor, etwa,wenn minutenlang eine Tafel für die Herren Offiziere
eingedeckt wird.
Der Einfall, die Militärs im eleganten Frack agieren zu lassen (Kostüme:
E. Keienburg), schafft einen frappanten Widerspruch zur makabren Kulisse,
bedient das Unwirkliche, heißt meines Erachtens aber auch Verlust beim Signalisieren
der erbarmungslosen Unbedingtheit der Militärfron auf dieser Festung Bastiani, heißt
Verlust insbesondere beim Signifikantmachen der objektiven Gefährlichkeit des
Militarismus. Das Bedrohliche einer menschenfeindlichen Militärkamarilla auch wegen
ihrer inneren moralischen Zersetzung sollte schon der übergreifende und
eigentliche poetische Punkt bleiben. Noch leben wir — bei allem Optimismus — nicht
in gesichertem ewigen Frieden.
Buzzati hatte seine Zeit als Hintergrund. Da er sie nicht konkretisierte,
konkretisieren konnte, blieb er vieldeutig zeitlos, weswegen sich seinem Sujet
auch Deutungen hinzudenken lassen. Dabei entstehende ästhetische Vielschichtigkeit
von Text und Spiel scheint mir, sofern sie aus heißem Herzen kommt und heutiger
notwendiger Selbstverständigung und Progression hilfreich ist, brauchbar für
brennend aktuelles Theater. Der auf Offenheit orientierte Zuschauer ergänzt mit
eigener Phantasie, filtert Wahrheit aus dem Vexierbild.
Die Regie fand im wesentlichen gute Umrisse der Figuren, wenngleich
schärfer unterscheidende Konturen denkbar wären. Etwas heraus aus dem Bild
fällt Lothar Försters skurril-dünkelhafter Trompeter Conti. Sein sarkastisch
gezeichneter Filimore dann, eines im vergeblichen Warten auf den Feind
ergrauten und zerbrochenen Militärs, trifft kritisch das unverbesserlich
Militante dieses Kommandanten. Vorzüglich Dietrich Körner als seinem Lebensamt
ergebener Feldwebel Tronk, der mit stoischer Hartnäckigkeit ein widersinniges Reglement
verbessern möchte. Jan Josef Liefers gibt einen Drogo, der sich von Anbeginn
seines Festungsdienstes gleichsam instinktiv, in jugendlicher Gesundheit, gegen
die apathische Verzweiflung der Einsamkeit wehrt, gegen einen zerstörerischen Bazillus,
von dem seine Kameraden befallen sind. In weiteren Rollen Volkmar Kleinert, Udo
Kroschwald, Horst Manz, Sewan Latchinian, Tobias Langhoff und Sven-Eric Just.
Neues
Deutschland, 19. Oktober 1989