„Die Fliegen“ von Jean-Paul Sartre am Deutschen Theater Berlin, Regie Friedo Solter

 

 

 

Freiheit als Geheimnis der Götter

 

In einer DDR-Erstaufführung kam am Deutschen Theater Jean-Paul Sartres Drama „Die Fliegen" zur Premiere. Friedo Solter setzte eine nun schon deutlich verfolgbare Linie dieser Bühne fort, nämlich die theatralische Erkundung bizarrer, teils sogar auffallend phantastischer dramatischer Werke. Auch solche Stücke können belebend auf den Spielplan wirken. Der atheistische Existentialist Sartre (1905-1980) dürfte dabei jedoch kaum mehr als einen geachteten Randplatz in der Theaterkunst einnehmen.

Das 1943 im von faschistischen Truppen besetzten Frankreich uraufgeführte Stück „Die Fliegen" hatte trotz seiner antiken Verschlüsselung unmittelbare agitatorische Wirkung. In dem griechischen Mythenstoff vom Jüngling Orest, der in seine Heimatstadt Argos zurückkehrt, um den Mord an seinem Vater Agamemnon zu rächen, fand Sartre die Vorlage für seine Theorie. So verkündete er seinen französischen Landsleuten von der Bühne herab die objektiv idealistische, damals aber aktuell mobilisierende These, die Menschen seien frei, sie wüßten es nur nicht. Ihre Freiheit sei das Geheimnis der Götter und der Könige, sprich: der faschistischen Okkupanten.

Ein einziger Mensch nur, eben Orest, wird sich dessen bewußt und engagiert sich wider die gottgewollte Tyrannei. Nach der Begegnung mit Elektra, seiner gedemütigten Schwester, rüstet er sich, König Ägist und seine Mutter Klytämnestra, die Mörder seines Vaters, umzubringen. Von Jupiter, der als oberster Gott wie ein diensthabender Deus ex machina die Schicksalsfäden in der Hand hält, läßt er sich nicht manipulieren. Er vollbringt seine blutige Tat und stellt sich reuelos den Rachegöttinnen, den Erinnyen - bei Sartre sind's allgegenwärtige Fliegen. Auf den Thron verzichtend, sucht Orest das Weite in der Hoffnung, die Fliegen — wie einst ein Flötenspieler die Ratten — hinter sich herzuziehen und dergestalt seine Vaterstadt endgültig zu befreien.

So fügt sich zu sagenhaftem Märchen, was im Jahre 1943 unmittelbare gesellschaftliche Brisanz hatte. Friedo Solter macht denn auch gar nicht den Versuch, uns irgendeine pseudoaktuelle Lesart aufzureden, sondern gibt a priori seriös-anschauliches Bildungstheater. Reiner Bredemeyers Musik spannt einen verhaltenen, doch unüberhörbaren elegisch­melancholischen Rahmen, schafft gefühlsmäßige Distanz. Hans-Jürgen Nikulkas klobig-martialisches Bühnenbild markiert die unüberwindbaren Schluchten einer Festung. Als Orest selbstbewußt aufbricht, öffnet sich der gruftartige Tempel, lockt ein romantisch-zartblauer Himmel und ironisiert den im Grunde tragikomischen existentialistischen Individualismus dieses Sartreschen Helden.

Der Orest von Michael Schweighöfer hat das Zaudern eines Hamlet, die Kälte eines Richard III. und die schöne Unschuld eines Romeo. Die Elektra von Dagmar Manzel beeindruckt in ihrer exaltierten Verzweiflung und herben, zerbrechlichen Nüchternheit. Der Jupiter des Otto Mellies trägt sichtlich schwer an seinem jahrtausendealten Amt. Die Klytämnestra von Käthe Reichel ist von innerer Dämonie, der Ägist von Hans Teuscher ein willfähriges Werkzeug des Gottes. Michael Gwisdeks Pädagoge könnte auch als possierlicher Malvolio Figur machen.

 

 

Neues Deutschland, 27. Januar 1987