„Frau Flinz“ von Helmut Baierl am Theater der
Bergarbeiter Senftenberg, Regie Lutz Günzel
Verstrickt in den Fortschritt
Mich beeindruckte sehr, welch unmittelbare Kommunikation sich im Senftenberger Theater einstellte zwischen dem vorwiegend jugendlichen Publikum und der Geschichte von der Martha Flinz, ihren Söhnen und dem Friedrich Weiler. Und ich fühle mich verpflichtet, diese offenkundig einhellige Zustimmung hier ausdrücklich festzuhalten. Die Senftenberger spielen konkret für dieses Publikum und nicht für den Hinzugereisten, der bestimmte Erwartungen mitbringt. Freilich kann ich nicht an mich halten, ich muß sie aussprechen. Zum Beispiel könnte ich mir das Bühnenbild für diese Baierl-Komödie bei aller notwendigen und einfachen Praktikabilität ein wenig schaubarer vorstellen, nicht nüchtern zurückfunktioniert auf die kahle szenische Absicht. Es handelt sich ja nicht um eine szenische Dokumentation. In Senftenberg ist die Guckkastenbühne mit weißen Vorhängen hell ausgehängt, und hineingestellt ist jeweils das Allernötigste an Dekoration. Das Auge bekommt kaum Möglichkeiten, sich assoziativ zu aktivieren. Obwohl die Zuschauer nichts zu vermissen schienen, muß ich gestehen, daß dieses trocken-prosaische Bühnenbild Joachim Voglers sich gewissermaßen neutral zurückhält. Der Bühnenbildner scheint keine Meinung zum Stück zu haben, da war kein Einfall, da wurde nur ausgestattet. Das ist schade; zumal das Stück damit unfreiwilligerweise ins Didaktische gerückt wird, wo es so prononciert nicht hingehört.
Aber es liegt nicht nur am Bühnenbild, wenn
bei mir der Eindruck entstand, daß die Inszenierung von der Grundhaltung aller
Akteure her etwas mehr komödiantischen Sinn vertragen hätte, etwas mehr
konkrete Auslotung des dialektischen Witzes des Autors. Regisseur Lutz Günzels
Vorzug ist, daß er seinen Schauspielern keine aufgesetzten theatralischen
Mätzchen und Drückerchen erlaubt, daß er überall den natürlichen Realismus der
Figuren anstrebt, daß das Komödische aus den real-konkreten Figuren-Beziehungen
entstehen soll. Aber Darsteller wie Wilfried Loll (als Fabrikant Neumann und
als Filmvorführer) oder Felix Kochan (als Kleinbauer Onasch) deuten an, daß, um
vom richtigen Spiel zur Besonderheit einer realistischen Kunstfigur zu gelangen,
es noch mehr Erfindungen braucht. Werner Johne (als Josef und als Meisterbauer
Westphal) gibt einfach ein bißchen kräftigeres stimmliches Temperament, und schon
haben seine Figuren reichere Nuancen. Mir scheint, Lutz Günzel hat im behutsamen
Bestreben, vor allem historische Treue zu erzielen, ein wenig vernachlässigt, daß
eine solche Komödie auch den pfiffigen schauspielerischen Einfall braucht. Und
zwar ständig, nicht nur gelegentlich. Baierls dialektischer Witz, wenn er nicht
ganz konkret ausgespielt wird, blüht nicht auf. Hier ist die Aufführung einiges
schuldig geblieben.
Die Martha Flinz von Hanka Metowa ist
ein brav-rechtschaffen Weib, im Grundgestus gewiß in etwa die Figur, aber da
kommt keinerlei Spielwitz hinzu, so daß sich eine gewisse gleichförmige
Trägheit im Handeln ergibt. Die flinke Schlauheit der Flinz kriegt die Metowa
nicht in die Geste und schon gar nicht in die Diktion. Wenn sie zum Beispiel ihre
Attacken startet, bleibt stets unklar, ob sie's bewußt vom Zaune bricht oder
ob's ihr wider Willen widerfährt. So stellt sich das schöne Verstricktsein der
Flinz in den Fortschritt für den Zuschauer nicht als Erlebnis her.
Die gesamte Inszenierung ist so in die Guckkastenbühne
hineinarrangiert, daß wir uns als Betrachter von historischen Begebenheiten
empfinden sollen. Das mag richtig sein, ich will hier nicht rechten. Trotzdem
bleibt für mich der Eindruck, daß für das Stück zentrale Szenen ungeschickt im
Hintergrund gespielt werden. Die Auseinandersetzung zwischen Friedrich Weiler,
Oberbürgermeister Elstermann und Käthe Raupach läßt nur schwer nachempfinden,
daß die Genossen aufrichtig um die Lösung eines Problems ringen und wider
Willen aneinander geraten, man assoziiert eher allgemeine Streitsüchtigkeit.
Dabei finden gerade diese Darsteller ein gutes Profil für ihre Figuren. Peter
Troche als Elstermann zeigt schön, wie dieser im Klassenkampf ergraute Genösse von
den Ereignissen überfordert wird, dennoch nach bestem Wissen und Gewissen gültige
Entscheidungen zu fällen sucht.
Max Grashof a. G. läßt die Härte des Kämpfers
Weiler erkennen, die unterdrückte Wut, wenn er beim Fabrikanten keinen Einlaß findet,
das Bemühen um joviale Freundlichkeit, wenn er sich taktisch geschickt durch
die Versammlungen zu schlagen müht, die große Herzlichkeit, wenn er die kranke
Flinz aufsucht. Der Weiler scheint mir in wesentlichen Zügen erfaßt. Vielleicht
lassen sich Brüche noch deutlicher spielen, z. B. am Krankenbett der Flinz,
wenn eben noch vom Tod der eigenen Familie die Rede ist, und er sich wieder der
Flinz zuwendet. Auch letztere Szene leidet meines Erachtens darunter, daß sie
so arg im Hintergrund der Bühne gespielt wird. Sie an die Zuschauer
heranzuholen, bedeutet für den Darsteller Zwang zu differenzierterer
Genauigkeit. Claudia Jacob weckt Verständnis für die schwierige Situation, in
der sich ihre Käthe befindet. Da ist kein dogmatischer Blaustrumpf, sondern der
vitale Anspruch einer jungen, das Leben meistern wollenden Generation.
Das durchweg junge Ensemble spielt mit spürbarem
Engagement. Auch Darsteller wie Max Löser (Anton), Norbert Braun (Frantischek
und Boye) und Benno Mieth (Otto Kalusa) prägen sich ein. Eine schwere Aufgabe
für Senftenberg, die junge Truppe wird daran wachsen.
Theater
der Zeit, 12/1979