„Friedensfest“ von Gerhart Hauptmann in den Kammerspielen des DT, Regie Jürgen Gosch

 

 

 

 

Eine gewöhnliche deutsche Familienkatastrophe

 

„Die Tristheit in unserem jungen Realismus dauert zu lange", klagte Theodor Fontane im Juni 1890 über Gerhart Hauptmanns „Friedensfest", was vom Verein „Freie Bühne" uraufgeführt worden war. Und was sagt unsereiner dazu? Hundert Jahre später? Angesichts einer Inszenierung des Stückes in den Kammerspielen des Deutschen Theaters in Berlin? Ich behaupte, die Tristheit hält vor. Und es ist nicht so sehr das Problem des einst jungen Realismus, eines mittlerweile altersschwachen Naturalismus, es ist das Problem der deutschen Familie, der kleinen, der bürgerlichen, wie der großen, der nationalen.

Denn, so ist man versucht zu fragen: Hat sich etwas verbessert seither? War es gar boshafte Absicht des Regisseurs Jürgen Gösch, bewußt zu machen, daß sich rein gar nichts geändert hat? „Was da gegeben ist, ist typisch", schrieb Fontane, „und es ist wahr wiedergegeben und ohne Übertreibung. Menschen, die sämtlich nicht schlecht sind, aber einen Sparren zu viel oder zu wenig haben und nicht in die Lage kamen, das angeborene Manko mit Hilfe von Erziehung und Liebe begleichen zu können. Menschen der Art geraten hier, ohne daß Verbrechen oder unsühnbare Schuld vorläge, durch bloße Querköpfigkeit und Unerzogenheit in unerträgliche Lebenslagen und machen sich das Dasein gegenseitig zur Hölle."

So war es, so ist es und so wird es wohl auch bleiben. Ob nun Sigmund Freud aktuell ist oder nicht. Ob nun Hauptmann bei Ibsen abguckte oder nicht. Der Dichter, der Menschen in ihrer Individualität zu fassen vermochte, wie kaum ein heimischer Dramatiker nach ihm, scheint zwar eine besondere Familienkatastrophe bemüht zu haben, aber die Summierung von Inferiorität, Aggressivität, Bosheit, Depressivität und Ratlosigkeit einerseits und Hilflosigkeit andererseits derer, die dagegen angehen, muten so alltäglich an wie gegenwärtig.

Der Anlaß ist nichtig. Ein Sohn, der Wilhelm, hat seinem Vater, den Dr. Scholz, in unbeherrschtem Protest wegen fortgesetzter Drangsalierung eine gelangt! Worauf er sich davon machte. Und auch den Vater litt es nicht mehr bei seiner unbedarften Frau. Nur Robert, der ältere Sohn, und Tochter Auguste blieben zu Hause. Just zu Weihnachten kommen die Umtriebigen zurück. Aber statt Versöhnung gibt's neuerlichen Streit. Aus heiterem Himmel, unvermittelt, schier grundlos. Regisseur Jürgen Gosch hat es geschafft, die Figuren glaubwürdig zu machen. Hin und wieder ironisiert er ihre Querelen fast liebenswürdig. Der herzliche, leider machtlose und im Grunde penetrante Idealismus der Frau Marie Buchner, die hofft, die zerrüttete Familie des Dr. Scholz unterm Tannenbaum versöhnen zu können, hat bei Margit Bendokat eine so schöne arglose menschliche Fürsorglichkeit, daß man dieser Frau ihre himmlische Naivität fast verzeiht. Und Ida, Maries Tochter, die in Wilhelm verliebt ist, ist bei Claudia Geisler von so umwerfend zarter, zerbrechlicher Selbstlosigkeit, daß man die Tragik solch grenzenloser Hingabe nur nebenher empfindet.

Die Buchners jedenfalls geraten zwischen die Familienfronten. Hausknecht Friebe (Reimar Joh. Baur) taktiert mit Hilfe von Alkohol. Die erbitterten Gefechte werden von der Regie nicht langstilig zelebriert, sondern forciert ausgetragen. Im Mittelpunkt: die Mutter, aufgelöst das Haar, nachlässig die Kleidung. Gudrun Ritter bietet eine gealterte, mal giftende, mal barmende Frau, die der Intellektualität ihres Mannes, selbst der ihrer Söhne, offenbar nicht gewachsen war, die sich hinter Aggressivität verbarrikadiert hat und nun einfach nicht mehr hervorkommt. Eben ist sie noch friedfertig, schon wettert sie, bohrt sie in den Seelen ihrer Angehörigen. Tochter Auguste (Ulrike Krumbiegel) wehrt sich trotzig, psychisch längst kaputt. Robert (Michael Maertens sehr überzeugend), noch intakt, läßt Mutter nicht an sich heran, poltert unerbittlich gegen sie los. Auch Wilhelm (Daniel Morgenroth ebenfalls glänzend), der heimgekehrte, angeknackste Sohn, entzieht sich ihr.

Höhepunkt des Abends: Die, zwar kurze, Aussöhnung des todkranken Vaters mit Sohn Wilhelm. Otto Mellies als Doktor med. Fritz Scholz wie eine lebende Mumie. Er bringt die Fernen, die er durchstreifte, mit in die häusliche Gruft (Bühnenbild Donald Becker), und lebt noch einmal auf, als er seinem Sohn vergibt, der sich vor ihm auf die Knie geworfen hat.

Letztlich ziemlich zopfig das alles. Es muß gesagt sein. Aber exquisite Schauspielkunst. Anhaltender Beifall.

 

 

 

Neues Deutschland, 17. Januar 1994