Brechts „Furcht und Elend des Dritten Reiches“ im theater 89 in Berlin, Regie Hans-Joachim Frank

 

 

 

Gestik der Angst

 

Hans-Joachim Frank, der Leiter und Chefregisseur des kleinen „theaters 89“ in Berlins Mitte, erweist sich als ein wahrer Meister der Charakterisierungskunst. Er entdeckt Bertolt Brechts politische Szenenfolge „Furcht und Elend des Dritten Reiches“, geschrieben 1935 bis 1938 in dänischer Emigration und neuerdings gern als einförmiger Agit-Text abgetan, als eine Sammlung differenzierter Menschenbilder. Sie sind geprägt von „gesten des verstummens, sich umblickens, erschreckens usw...“ (Brecht). Ein höchst aufschlussreiches Kompendium menschlicher „Gestik“ unter faschistischer Diktatur.

Schon der Auftakt lässt einen den Atem anhalten. Zur Szene „Volksgemeinschaft“ öffnet sich der metallene, eigens installierte kleine Eiserne Vorhang nach rechts und links, gibt den Blick frei auf die Tiefe der Bühne, wo aus dem Hintergrund die zwei SS-Offiziere mit brennenden Fackeln stelzig herantorkeln. Siegestrunken verharren sie, schwärmen vom Fackelzug und vom „Uffschwung“ des deutschen Volkes. Plötzlich stellen sie fest, dass sie sich verlaufen haben. Misstrauisch peilen sie ihre Lage. Eben noch umgänglich besoffen, sind sie plötzlich gefährlich aggressiv. Mit wenigen, satirisch scharf gezeichneten Vorgängen entwirft der Regisseur ein bedrückend stimmiges Bild von der Nacht des 30.Januar 1933 und desavouiert die Lüge von der Volksgemeinschaft.

Wer befürchtet hatte, das „theater 89“ werde sich mit diesem Brecht überheben und die Szenen nicht ihrer historischen Bedingtheit entreißen können, wird sich korrigieren müssen. Nach dem Berliner Ensemble mit Brechts „Jüdischer Frau“ und Heins „Mutters Tag“ sowie dem Renaissance-Theater mit Grumbergs „Atelier“ trägt nun diese kleine Bühne den politischen Staffelstab ins neue Jahr, um zu erinnern und um zu mahnen. Denn nichts ist gewisser als Brechts Erkenntnis über den deutschen Faschismus: Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.

Wobei Hans-Joachim Frank nicht vordergründig aktualisiert, sondern, unterstützt von Ausstatter Martin Fischer, mit ästhetischer Akribie auf geschichtliche Authentizität bedacht ist. Er zeichnet die Charaktere sehr genau in konkretem Milieu und mit viel Verständnis für ihr Geworfensein in unsägliche Verhältnisse. Letztlich aber wird schonungslos offenbart, wie verzweifelnde Menschen in auswegloser Angst in Anpassung und Opportunismus flüchten.

Im „Kreidekreuz“ spielt das Eckhard Becker exemplarisch. Er gibt den Chauffeur. Schon wie er vom am Tisch Platz nehmenden SA-Mann abrückt, betont Zeitung liest, aber immer wieder den jungen Mann neben sich kritisch mustert, gelegentlich mit sonorer Stimme reagiert, als habe er eigentlich gar nicht zugehört, ist sehens- und hörenswert. Und dann dieser Ausbruch, diese seelische Entladung, nachdem der SA-Mann seinen Kreidekreuz-Trick vorgeführt hat. Von Furcht getrieben und hellwach steht der anscheinend so phlegmatische Chauffeur plötzlich stramm, reißt als willfährige Kreatur den Arm hoch, schreit mit Hitlergruß seine Unterwürfigkeit heraus und eilt hinaus. Das geht unter die Haut, das bewegt, obwohl man wie ich gerade diese Szene schon etliche Male gesehen hat.

Auch der SA-Mann (Stefan Kowalski), von der Regie allerdings etwas zu aufgedreht hysterisch „hitlertreu“ angelegt, und daher oft undifferenziert laut, hat seinen Ausbruch. Wenn er mit Anna über Geld rechtet, vergisst der junge Mann Zucht und Ordnung und brüllt herum. Plötzlich steht da ein Betrogener in seiner ganzen bedauernswerten Armseligkeit. Mit Forschheit versucht er, seine wahre Lage zu verdrängen und reagiert seinen Frust an der Partnerin ab. Anna (Christina Große), das Dienstmädchen, bis dahin die demütige, geduldige künftige Hausfrau, verteidigt ihre kleine Menschlichkeit, ihr Sparbuch. Und wenn sie die Köchin (Simone Frost) bittet, auf ihren Rücken zu schauen, ob dort vielleicht ein Kreidekreuz prangt, fühlt man geradezu schmerzhaft, wie Misstrauen zwischen den Menschen das Leben prägte.

Eine Haltung, die in der Szene „Der Spitzel“ noch einmal bedrückend vorgeführt wird. Plötzlich vermutet ein Ehepaar (Angelika Perdelwitz und Eckhard Becker), ihr Sohn, ein Kind noch, sei ein Spitzel und unterwegs, die Eltern bei den Nazis anzuzeigen. Wie anfängliche Vermutung langsam aber stetig zu Verunsicherung und schließlich zu panischer Angst eskaliert, wird von beiden Schauspielern minutiös vorgeführt.

Ebenso präzis spielt Johannes Achtelik in der Szene „Rechtsfindung“ das Taktieren des Amtsrichters. Man ahnt plötzlich, warum Richter zuweilen milde Urteile fällen. Er hat Familie und Angst. Er versucht, eine den Mächtigen genehme Entscheidung zu finden, aber der, den er zu Rate zieht, lässt ihn gnadenlos hängen. Bernhard Geffke als Kriminalinspektor führt den eingeweihten, abgebrüht selbstsicheren Beamten vor, der ebenfalls Familie hat und sich auskennt im Zurechtlegen des jeweiligen Rechtsfalles. Er taktiert gewieft. Was den ohnehin verunsicherten Amtsrichter in die Verzweiflung treibt. Sich in der fatalen Lage immer hilfloser windend schreit er schließlich seine Furcht und sein Elend heraus.

Das sachlich realistische, die deprimierenden Hergänge dokumentarisch nüchtern und zugleich satirisch verschärft abarbeitende Spiel wird konterkariert mit Musik von Bach, Haydn und Schubert. Worüber man geteilter Meinung sein kann. Im übrigen handelt es sich zunächst um den ersten Teil der Szenen, deren zweiter Teil wird das „theater 89“ im Februar in seiner zweiten Spielstätte zeigen, im „Haus“ in Niedergörsdorf. Was spannend zu werden verspricht.

 

 

„Neues Deutschland“, 3. Januar 2001