„Gerettet“ von Edward Bond im Studio des Maxim Gorki Theaters Berlin, Regie Grazyna Kania

 

 

 

Woanders ist es nicht anders

 

Woher kommen Frust, Stumpfsinn und Aggressivität beim zwar nicht reichen, aber halbwegs be­schäftigten und gut genährten Bürger? Einst gehörte es zur Berufsethik eines Dramatikers, nicht nur Konflikte aufzu­greifen, sondern auch öffentlich über mögliche Ursachen nachzudenken. Das haben zeitgenössische Schreiber nicht mehr nötig. Sie werden auch gespielt, wenn sie nur Zustände ablichten. Einer, der mit dieser Methode Furore machte, ist der Engländer Edward Bond (Jahrgang 1934). Er löste 1965 mit »Gerettet«, seinem zweiten Stück, einen Skandal aus. Die englische Zensurbehörde verlangte Streichungen, gespielt wurde der Text dann in so genannten Privatvorstellungen.

Das umstrittene Stück ist jetzt im Studio des Berliner Maxim Gorki Theaters zu se­hen, auch die Szene, die damals zu den Auseinandersetzungen führte: die Steini­gung eines Babys durch verrohte Jugend­liche. Mord in aller Ausführlichkeit vor­zuführen, ist letztlich Bühnenalltag. Schon Shakespeare war da nicht zimperlich. Dass bei Bond der grausame Akt drama­turgisch nicht aufbereitet ist, also kaum Folgen hat, scheint mir allerdings ein Mangel. Man erfährt zwar, dass einer der Täter, Fred, der Kindsvater, eingelocht wurde, aber die übrigen jugendlichen Verbrecher bleiben offenbar unbehelligt. Gewiss, hier wird bewusst nicht der Kri­minalfall abgehandelt, aber jetzt entsteht der Eindruck, als seien die Haupttäter gänzlich straffrei geblieben, Fred nur kur­ze Zeit inhaftiert gewesen und der Tod des Kindes in der Familie kaum registriert worden. Leider ist hier auch die ansonsten

präzise Inszenierung zu ungefähr. Ver­schwommenheit mag zum Image der neonaturalistischen Dramatik gehören, aber wenigstens die Regie hätte über Kostüm und Maske andeuten können, dass der Autor zwischen seinen dramatischen Si­tuationen meist allerhand Zeit verstrei­chen lässt. Und Zeit heilt bekanntlich alle Wunden.

Die Aufführung, eine Koproduktion mit der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch«, ist im Übrigen um psy­chologische Stimmigkeit bemüht. Regis­seurin Grazyna Kania entwirft vor rauer Betonwand (Bühne: Matthias Schaller) das bedrückende und beeindruckende Bild einer völlig desolaten Familie. Mit selbstverständlicher, schon verinnerlichter Rücksichtslosigkeit lebt man in eisiger Kälte aneinander vorbei. Exzellente Schauspieler. Thomas Neumann als Vater Harry, total introvertiert, ein menschli­ches Manifest unsäglicher Traurigkeit und Lebensenttäuschung. Monika Hetterle als Mutter Mary, noch immer umtriebig ge­schäftig, die offenbare Leere des Daseins und die völlige eheliche Entfremdung mit Power auch vor sich selbst kaschierend. Die beiden seelisch verkrusteten und ver­trockneten Eheleute schwanken zwischen stoischem Langmut und hilfloser Bissigkeit.

Zwar gibt es realiter in der Regel keine simpel mechanistischen Zusammenhän­ge, aber Tochter Pam soll bei Bond offen­bar das Ergebnis dieser zerrütteten Ehe sein - eine stramme junge Wilde, ein hek­tisch hysterisches Mädchen, ein bisschen Hure, ein bisschen neugieriger Teenager. Zur Mutter hat sie weder Talent noch Nei­gung. Der jungen Schauspielerin Stepha­nie Schönfeld glaubt man die schon krankhafte Verliebtheit der Pam in Fred (Ulrich Blöcher), den sie immer brüsker abweisenden Kindsvater. Glaubwürdig ist auch Len (Felix R. Klare), der kindisch in Pam vernarrte junge Mann, ein treuherzi­ger Stino und geduldeter Untermieter mit Blick schließlich auch für die noch immer durchaus attraktive Mary.

Turbulenzen. Plötzlich brüllt der an­sonsten schweigsame Harry herum. Eifer­sucht plagt ihn. Kurz entschlossen zer­klopft Mary die Kaffeekanne auf seinem Schädel. Der sucht bei Len, seinem jungen Konkurrenten, Trost im Gespräch. »Wo­anders ist es nicht anders«, verkündet die malträtierte Seele und schlurft hinaus. Dann sitzt die Familie schweigend vor der stummen Glotze. Selbst dieser zweifel­hafte Spaß ist ihr vergangen.

 

 

 

Neues Deutschland, 23. Oktober 2000