„Germania 3 Gespenster am toten Mann“ von Heiner Müller, Uraufführung am Schauspielhaus Bochum, Regie Leander Haußmann

 

 

Dunkel Genossen ist der Weltraum

 

„Wir mußten das Ding erst mal erden", soll Regisseur Leaner Haußmann gesagt haben über den Umgang mit Heiner Müllers letztem Stück „Germania 3 - Gespenster am Toten Mann", das er kurz vor Pfingsten am Schauspielhaus Bochum uraufführte. Dem jungen Intendanten und seinem Ensemble ist es gelungen, einem scheinbar unspielbaren literarischen Torso überzeugende theatrale Gestalt zu geben. Mit beredten, detaillierten schauspielerischen Vorgängen werden selbst die abstraktesten Metaphern sinnfällig gemacht. Haußmann und sein Regie-Mitarbeiter Uwe Dag Berlin brillieren mit ergötzender Spielphantasie, souverän kontern sie die Tragödie immer wieder komisch.

Einmal mehr behandelt Heiner Müller deutsche Schicksale, durchlebt in blutiger europäischer Geschichte. Als dramaturgischer Drehzapfen dient ihm ein dialektisches Konstrukt: die Enthauptung der KPD durch deutsche Offiziere (Ermordung von Luxemburg und Liebknecht) als eigentliche Wegbereitung Hitlers. Die KPD „ist eine besiegte Partei, wie Kriemhild eine besiegte Partei war, die eben dann Attila geheiratet hat, um sich zu rächen an den Mördern von Siegfried" (H. Müller). Dennoch nach 1945 der Versuch dieser bereits besiegten Partei, das Volk von seinen Ausbeutern zu befreien. Aussichtslos a priori? Paradox der Geschichte. Ernst Thälmann und Walter Ulbricht stehen auf Posten an der Berliner Mauer, dem „Mausoleum des deutschen Sozialismus", und fragen sich, was sie falsch gemacht haben. Die Antwort: Rosas Ermordung vor den Augen der beiden. So beginnt Müllers deutsche Tragödie.

Haußmann behandelt diese erste Szene wie ein Präludium. Er weiß, daß er für seine Bochumer Zuschauer auch Bildungstheater machen muß. Wenn er Text ergänzt, wird er nicht weitschweifig. Hier, zum Auftakt, läßt er den Dialog zwischen Ulbricht und Thälmann vom Ensemble aufnehmen und leise, erinnernd, vertiefend, wiederholen. Und einen Eulenspiegel (Steffen Schult) führt er ein, mal wurstig, mal bestimmt, Germania repräsentierend, Mittler zwischen Stück, Ensemble, Publikum.

In komprimierten, mal realistischen, mal symbolisierenden Szenen, unchronologisch gegeneinander montiert, beschwört Müller das epochale historische Ereignis dieses Jahrhunderts - Versuch und Fehlschlag, auf Pressionen des Kapitalismus mit Sozialismus zu antworten. Er bemüht Kronzeugen: Stalin und Hitler, Rosa Luxemburg, Lenin, Trotzki, Thälmann, Ulbricht. Er nimmt poetische Anleihen auf: Kriemhild (zu gegebener Zeit in der Uniform der Roten Armee), Hagen (im nämlichen Moment als deutscher General). Und er zeigt das Volk, Deutsche, Russen, die Folgen der Entscheidungen ihrer Führer erduldend, erleidend. Ob Täter oder Opfer von Revolution und Krieg, sie alle sind „Gespenster am Toten Mann"; aussichtslos verstrickt in die Unwägbarkeiten der Geschichte, Sinnbilder für menschliche Niederlagen. Dem Untergang der Faschisten im Inferno sowjetischer Gegenwehr folgt das Dilemma ostdeutscher Volksherrschaft, gekrönt vom fröhlichen Einzug der Immobilien-Yuppies in Parchim. Das Finale: Germania endet schmählich kriminell als Rosa Riese, als Frauenmörder von Beelitz... „Dunkel Genossen ist der Weltraum sehr dunkel", kommentiert Müller/Eulenspiegel. „Tja", resümiert das Ensemble.

Nicht Häme, gar Überheblichkeit gegenüber den Figuren beherrschen in Bochum die Bühne, sondern kritische Einfühlung. Geradezu fürsorglich sind die Soldaten gezeichnet, Rotarmisten, Landser. Stalin (Gennadi Vengerov) wird als grausamer asiatischer Potentat vorgeführt, der die Krone verachtet. Diktator Hitler (Heiner Stadelmann) wird in einer exzellenten Studie als verknurrter Popanz entlarvt und der Lächerlichkeit preisgegeben. Die partyfreudigen Bürger im sächsischen Frankenberg (u.a. Manfred Böll, Ralf Dittrich, Torsten Ranft, Heiner Stadelmann) strahlen Selbstgefälligkeit tiefer DDR-Provinz aus, schmerzhaft verunsichert durch die Nachricht vom XX. Parteitag der KPdSU.

Für einen Vorzug der Inszenierung halte ich, daß sie - mit Unterstützung von Musik und Gesang - trotz zuweilen brutaler Hergänge nie widerlich wird, immer den Gestus des Spiels beizubehalten versteht. Daß der Regisseur dabei die Passagen über das Berliner Ensemble übermütig ironisch, teils fast gehässig abfertigt, werden Heiner Müller und Bertolt Brecht „überleben". In Bochum langanhaltender herzlicher Beifall.

 

 

Neues Deutschland, 28. Mai 1996