„Geschichten aus dem Wiener Wald“ von Ödön von Horvath am Thalia Theater
Hamburg, Regie Martin Kusej
Schlächter können
warten
Mit »Figaro läßt sich scheiden« vom Wiener Theater in der Josefstadt und
»Geschichten aus dem Wiener Wald« vom Hamburger Thalia Theater war der 1938
verstorbene Ödön von Horväth auf dem
Berliner Theatertreffen gleich zweimal vertreten. Wahrscheinlich kein
Zufall.
Von Krieg ist die Rede. Und vom Ende der Kultur. Der in deutscher
Sprache schreibende Dramatiker altösterreichisch-ungarischer Mischung, geprägt
vom Ersten Weltkrieg, erfaßt an Krisenhaftem und Unsäglichem, was noch immer
oder erneut deutsche Gegenwart bestimmt: Kriegslust. Ausbeutung. Unterdrückung
der Frau. Bei ihm geraten »redliche« Mittelständler tief in existenzbedrohliche
Konflikte, bleiben aber irgendwie fein moralisch und vor allem gottesfürchtig.
Was das Erfreulichste ist: Horvath ist tot, er kann sich nicht einmischen,
kann nicht etwa wie Peter Handke mit unbequemen Äußerungen den letztlich
konformistischen theatralen Spielspaß verderben.
Das 1931 am Deutschen Theater in Berlin uraufgeführte
Volksstück »Geschichten aus dem Wiener Wald« steht für Horvaths visionäre Sicht
auf eine heraufziehende Epoche der Schlächter und Totengräber, personifiziert
im Tun und Lassen des gutsituierten Fleischermeisters Oskar. Dem Mann ist
Nachbars Marianne versprochen, die Tochter des Besitzers der Puppenklinik »Zum
Zauberkönig«, der wie der Fleischhauer ein fanatischer Verfechter des
Patriachats ist. Oskars Küsse sind brutale Bisse, was überrascht, denn er
scheint ein friedfertiger, sanftmütiger junger Mann zu sein. In Wahrheit ist er
ein frommer Sadist, dem sich Marianne nur zu gern entzieht, als ihr der
ehemalige Bankangestellte, jetzt arbeitslose Alfred die große Liebe verspricht.
Oskar jedoch kann warten.
Ich meine, Regisseur Martin Kusej (Jahrgang 1961) hat die eigentliche Gefährlichkeit dieses Oskars, des Schlächters der warten kann, des wendigen Kleinbürgers, des potentiellen Faschisten, nicht beredt genug auf die Szene gebracht. Werner Wölbern spielt ihm einen umgänglichen, netten Kerl, der Lauterkeit abstrahlt und Ehe-Gemütlichkeit. Daß er, um in seine Fleischerei zu gelangen, eine an hoher Wand montierte Feuerleiter hochsteigen muß, macht seine geruhsame Behäbigkeit noch dicker.
Vielleicht ist diese „Feuer“leiter ein Symbol, das ich nicht verstanden
habe. Die Bühnenbildner, die heutzutage meist kein sozial konkretes, sondern
formalisiertes Theater zu bedienen haben, gehen mit der Örtlichkeit freizügig
um. Bei Hugo Gretler blickt der Zuschauer auf drei massive, bis in den
Schnürboden hochgezogene Ziegelwände, die den Innenhof eines martialischen
Staatsgefängnisses zu umschließen scheinen. Vorn an der Rampe fließt die
knietiefe Donau. Nach hinten gibt ein riesiges Rolltor den Blick auf die
Puppenklinik frei oder auf die ferne, grüne Wachau. Nichts da von Idylle.
Grausames Leben a priori. Die Großmutter (Elisabeth Schwarz) watet in
der Donau, wiegt scheinbar liebevoll den kleinen Leopold, den Sohn ihres
Enkels Alfred und Mariannes. Plötzlich läßt sie ihn in die Fluten gleiten. Mit
diesem bestürzenden Auftakt gibt der Regisseur den tragisch-fatalistischen
Grundton seiner Inszenierung an, der bei allen Figuren mitklingt. Da ist die
liebessehnsüchtige Trafikantin Valerie (Hildegard Schmahl), der
militant-verkrampfte Student Erich (Jan Schütte), der kauzig-liebenswürdige
Rittmeister (Jürgen Stössinger), der geldschwere Amerikaner (Peter Maertens).
Wechsel im Tempo sind selten. Eine gewisse Gleichförmigkeit fällt auf.
Immerhin hebt sich Mariannes trauriges Schicksal ab.
Szenen, die sich einprägen: Wie die verliebte junge Frau (Sylvie
Rohrer), als Alfred (Dietmar König) um sie wirbt, vor allen Leuten tapfer die
Verlobung mit Oskar aufkündigt. Wie sie, von Alfred verlassen, verzweifelt
Gott anruft und ihn fragt, was er mit ihr vorhabe. Wie sie sich, inzwischen
Nacktmodell in einer Bar, in ihrer Hilflosigkeit bemüht, den störrischen Vater
(Christoph Bantzer) zu versöhnen. Wie sie sich schließlich und endlich, erschöpft
vom gescheiterten Versuch, ihren eigenen Lebensweg zu gehen, gebrochen und
willenlos in die Hände von Oskar begibt.
Zur Pause hatten sich einige Zuschauer davongemacht. Traf
Horvath nicht ihren Nerv? Oder nervte die Regie, die das Stück letztlich zu
harmonisch faßte?
Neues Deutschland, 28. Mai 1999