„Gier“ von Sarah Kane in der Schaubühne Berlin, Regie
Thomas Ostermeier
Hilferufe verlorener Kreaturen
Die 1971 in Essex geborene Autorin Sarah Kane gehörte zu
den Hoffnungen des englischen Theaters. Im Februar 1999 erhängte sie sich in
einem Londoner Hospital, in das sie nach einem Suizidversuch eingewiesen worden
war. Ganz bewusst sagte sie dem Leben Lebewohl.
Mit »Zerbombt« (1995) und »Gesäubert« (1998),
Zeremonielle über gnadenlose Gewalt, hatte sie sich noch indirekt mit der Welt
angelegt. Sie hatte ihre Seele ausgewrungen wie einen Scheuerlappen, geistigen
Striptease gemacht und sich elend dabei gefühlt. Sie verzweifelte, obwohl sie
Erfolg hatte und vor allem mit »Gier« (1998) genau das Ideal des angeblich
modernen, die sozialen Zustände hinnehmenden Bauchnabel-Theaters bediente.
Wurde sie ein Opfer des Trends? Wahrscheinlich hatte sie dessen ästhetischen
Leerlauf nur zu gut begriffen.
Thomas Ostermeier stellt jetzt an der Berliner Schaubühne
in deutscher Erstaufführung »Gier« vor, kein Endspiel, eine Endsaga. Als
empfindsamer Theatraliker erfindet er keine Aktion, wo dergleichen nicht
vorgegeben wurde, sondern demonstriert geradezu exemplarisch handlungsunfähige
Geschöpfe und nimmt in Kauf, dass sich der Zuschauer zu einem Hörstück gebeten
wähnt.
Zwei Frauen und zwei Männer, Figuranten, von der Autorin
A, B, C und M geheißen, irgendwie seltsame Gefangene ihrer innersten Impulse,
äußern schmerzliche Seufzer menschlicher Entfremdung. Damit schaubar sei, wie
total die vier Gestalten aneinander vorbeiexistieren, ist jede von ihnen vom
Regisseur vereinzelt auf ein hohes, schmales Podest gestellt (Bühne Rufus
Didwiszus), wo sie stehen oder sitzen und ihren Text nicht für- und gegeneinander,
sondern ins Mikrofon sprechen. Ihre besondere Lokalisierung rückt sie zugleich
weg vom Zuschauer, aber auch irgendwie in die Bedeutung, gleichsam auf kleine
Tribünen öffentlicher Verlautbarung.
Leider aber ist, was sie dort zu verkünden haben, nicht mehr als eine
intelligente Variante des hinlänglich bekannten Bühnen-Frusts über
Vereinsamung, Vergewaltigung, unerfüllbare Liebe und Sehnsucht nach dem Tod.
Ohne erkennbaren Grund, einfach so aus Laune schütten die anonymen Gestalten
ihre verwüsteten Seelen aus. Ihre Äußerungen wechseln zwischen naturalistischer
Beliebigkeit und poetischer Verdichtung.
Den Vortrag meistern Christin König, Michaela Steiger,
Falk Rockstroh und Thomas Dannemann sprecherisch hervorragend. Keine
Monotonie, sinnlich kräftige Sprache. Am beseelt richtigen Ton hätte
Stanislawskij seine helle Freude gehabt. Aus dem Stand, ohne psychische
Handlung, wird behauptet, geklagt, protestiert, geschimpft, gehofft, beteuert,
gedroht. Meist nur Worte. »Sterben.« »Schlafen.« »Scheiße.« Dazwischen Sätze.
»Ich denke nicht.« »Ich seh nichts Gutes mehr in irgendwem.« Und so weiter. Und
so fort. Figurant A (Falk Rockstroh) hat eine längere Passage. Mit anrührender
Stimme beschwört er Kompliziertheiten seiner Liebe zu seiner Frau.
Nach einer Stunde gibt's eine Abwechslung. Der Regisseur
ändert die Beleuchtung und lässt ohne Mikrofon eine Art Abgesang zelebrieren.
»Satan, mein Herr, ich bin dein« ist zu hören und als beharrliche Antwort
»Nein, nein, nein...!« Der Ruf »Töte mich« prägt sich ein, und die Schlussworte
»Glücklich und frei« stehen beziehungslos leer im Raum.
Was als Hilferuf verlorener Kreaturen gemeint scheint,
berührt erstaunlich wenig. Wer braucht solch lendenlahmes Nicht-Theater? Die
erlebnishungrige Jugend? Schwerlich. Warum wird dennoch dafür gesorgt, dass
derart Fabel-lose Zustands-Erörterungen, »postdramatisches Theater« genannt,
geradezu fatalistisch über uns kommen? Theatermacher: Hütet euer ureigenes
Rüstzeug!
Neues Deutschland, 28. März 2000