„Das Gleichgewicht“ von Botho Strauß am
Deutschen Theater Berlin, Regie Thomas Langhoff
Es hat alles keinen Zweck mehr
Ausverkauf, Untergang des Mittelstandes. In
seinem Schauspiel „Das Gleichgewicht" (1993 in Salzburg uraufgeführt)
kolportiert der empfindsame „Diarist" Botho Strauß einen aktuellen Trend
in Deutschland. Als ephemer Beobachter („Ich habe keine Ahnung über den Verlauf
der Zeit, aber ungefähr über den Tag.") bringt er soziale Prozesse ins
theatrale Bild, die sich in Berlin, wo er unweit vom KaDeWe wohnt, sozusagen
tagtäglich vor seiner Haustür abspielen. Er erfindet einen zeitgenössischen Diskurs
zum Thema Gleichgewicht. Zwischen den Menschen. In der Gesellschaft. Zwar
scheint manch Zusammenhang gewollt, ausgedacht, letztlich konstruiert, aber
Regisseur Thomas Langhoff konretisiert die Vorgänge, verschafft der deutschen
Erstaufführung im Deutschen Theater Berlin überzeugendes ästhetisches Format.
Unübertroffen auch diesmal die subtile Charakterisierungskunst seiner
Darsteller.
Bei Strauß kein Natürlichkeits-Realismus, wie
wir ihn von Hauptmann kennen. Eher ein wenig Symbolik, wie sie Barlach anbot,
aufgehellt zu freundlicher, sentimentaler Romantik. Jedenfalls hat die Idylle
in einer Berliner Geschäftsstraße, wo kleine Ladenbesitzer, die Porzellanwaren-Händlerin
Marianne Abel (Jutta Wachowiak) und der Mineralien-Händler Gregor Neuhaus
(Christian Grashof), vor ihren Schaufenstern Wein trinken und über die Zeit und
die Liebe meditieren, allerhand verspielte Nostalgie. Auch das Bühnenbild Peter
Schuberts (alle Spielorte auf der Drehbühne) unterstreicht das Romantische,
wenngleich die Kombination von Leinwand-Kulisse und knallroter Hausfront auch
ernüchtert.
Ernüchterung überhaupt. Zumindest für die, die Illusionen hegten nach dem Scheitern des Sozialismus in Deutschland. Der wirtschaftliche Aufbruch im größer gewordenen Staat erweist sich als gnadenlose Eskalation der Monopole, die die meisten der alten und neuen Bundesbürger schmerzhaft tangiert. Das soziale Gleichgewicht ist dahin. Der Mittelstand wird zerrieben. Ladenbesitzer wie Abel und Neuhaus können die um 300 Prozent erhöhte Miete nicht mehr bezahlen. „Es hat alles keinen Zweck mehr", resigniert Marianne. Das gemeinsame Schicksal scheint sie mit Gregor zusammenzuführen. Immerhin kennen sie sich seit 17 Jahren. Aber Neuhaus, einst Hochschullehrer, der sich einen Kommunisten nennt, welche jetzt, wie er meint, „auf ihrem Posten ausharren" sollten, sucht eine Bleibe zwischen Bingen und Bacharach am Rhein, um sich in Ruhe mit dem Frühromantiker Schelling beschäftigen zu können. Und Marianne wird versuchen, neu ins Geschäft zu kommen, irgendwo in einer Verkaufskoje auf einem Supermarkt bei Weißensee am Rande der City. Weinselig nimmt sie mit ihrer Freundin Lilly Abschied vom Kiez.
Lilly ist die Frau des Ökonomie-Professors
Christoph Groth, der sich für ein Jahr nach Australien begeben hatte, um durch
zeitweilige Trennung versiegende Liebeserwartung neu zu steigern. Die blonde
Lilly allerdings hatte schon vorher für sich einen eigenen Weg gefunden, hatte
versteckt unter schwarzem Pagenhaar ein Doppelleben geführt. Als Zeitungsverkäuferin
auf einem S-Bahnhof und als Geliebte des Rockers Jaques Le Coeur (Jörg Gudzuhn)
versuchte sie, aus ihrem Leben mehr zu machen, als eine mittelständische Ehe
herzugeben pflegt. Dagmar Manzel stellt die Rocker-Lady kräftig aus, gibt der
Ehefrau charmante Burschikosität. Die Rückkehr ihres Gatten erwartet sie
ziemlich aufgeregt.
Ehemann Groth kehrt
heim als passionierter Bogenschütze und um eine Erfahrung reicher. Er weiß
jetzt, daß er statt nach Australien eher nach Osteuropa hätte reisen sollen. Dort
hätte seine Konjunktur-Theorie vielleicht noch Zuspruch gefunden. Nun hat der Phraseur,
der Stoiker und Dynamiker zugleich sein möchte und die Welt mit Liberalität zu
heilen hofft, Ärger mit der Gattin. Nicht nur, daß er ihr einen Pfeil in den
Rücken schießt. Der Unfall läßt auch Lillys Doppelleben an den Tag kommen.
Groth versteht zu kompensieren. Jürgen Hentsch (erfreulich wieder am DT!) gibt
ihm hervorragend das Profil eines fast manisch selbstbewußten Pragmatikers. Cool
kauft er sich den armen Schlucker Le Coeur, so dass der seine Liaison leugnet. Doch
im Dunkel des S-Bahnhofs küßt Jaques seine Lilly wie eh und je. „Die Welt ist schön!"
wissen sie zu verkünden.
Da ist ein wohnungsloser Intellektueller
(Ignaz Kirchner diesmal ins Ensemble integriert) anderer Meinung. Der
philosophierende Mann „vom Grünstreifen", den ihm die Obrigkeit streitig
macht, orakelt von Völkern, die, aus dem Osten kommend, bald alle Grünflächen
besetzen werden. Er streunt mit Lilly, wenn sie einsam ist. Ein zufälliges
Füreinander in dieser kalten Gesellschaft, die auch Groths Sohn Markus (Guntram
Brattia) schwerlich retten wird. Der Jura-Student schwört auf den Reformer Savonarola,
auf dessen Intentionen zu einer theokratischen Volksregierung. Hoffnung auf
gestern? Auf ein altes Gleichgewicht? Markus, der „von unten aufräumen"
will, spekuliert an der Börse...
Neues
Deutschland, 22. Februar 1994