„Warten auf Godot“ von Samuel Beckett an der Volksbühne Berlin, Regie Siegfried Höchst

 

 

 

Szenisches Gleichnis von verspielter Zeit

 

Eine breite Asphaltstraße führt mitten aus dem Publikum weit hinein in die Bühne zu einem in der Ferne aufragenden Hochgebirge. Links am Wege verrottet Müll, rechts steht ein vertrockneter Baum, flimmert im Hintergrund ein Fernsehschirm. Ein Telefon klingelt, klingelt, klingelt, verbreitet Unruhe.

Dies das Bühnenbild Jochen Finkes für Samuel Becketts Clownspiel „Warten auf Godot" in der Berliner Volksbühne. Es setzt deutlich einen szenischen Gegensatz zur Weglosigkeit der Beckettschen Narren Estragon und Wladimir. Sie kommen wie Clochards aus dem Dunkel, aus dem Irgendwoher, aber die Straße benutzen sie nicht. Sie hocken sich nieder oder flanieren hin und her und warten, warten, warten. Selbst der ferne Lärm einer Großstadt animiert sie nicht.

Das Stück, dessen Uraufführung 1953 den Autor über Nacht zum Repräsentanten spätbürgerlichen Theaters gemacht hat und das Siegfried Höchst jetzt an der Volksbühne mit komödiantischem Gestus in Szene setzte, entzieht sich herkömmlicher Kommunikation im Theater. Da wird keine unmittelbar nachvollziehbare Geschichte geboten, wird kein dramatischer Konflikt ausgetragen. Die Figuren scheinen sich absurd im Kreise zu drehen. Und die Zeit scheint still zu stehen. Aber gerade sie, die Kostbare, die Unwiederbringliche, läuft unaufhaltsam weiter ...

Das Interesse der Zuschauer richtet sich naheliegenderweise auf den geheimnisvollen Titelhelden Godot. Wer ist das? Der 1906 geborene Beckett behauptet gewitzt, er wisse es nicht. Viele Vermutungen hat es bisher gegeben, besonders findige Interpreten haben herausgespürt, nicht auf diesen Godot komme es an, sondern vielmehr auf den Vorgang des Wartens. Wladimir und Estragon, so heißt es, erwarten sich von dem Ausharren etwas, nämlich Rettung und Erlösung.

Mir scheint vielmehr, und die Inszenierung von Höchst bestärkt mich darin, das poetische Gleichnis zielt auf etwas anderes: auf das Problem des Untätigseins. Zwei Menschen verspielen so ahnungs- wie tatenlos ihre Zeit. Das ist der hintersinnige wie frappierende philosophisch-kritische Pfiff dieses der Commedia dell'arte total entwachsenen Beckettschen Narrengaudis. Mit albernem Schabernack, mit drollig-sentimentalen Spielerchen vertreiben sich Wladimir und Estragon, gelegentlich eine gestohlene Rübe futternd, die Langeweile in der Hoffnung, daß Godot kommt und ihnen den Sinn des Lebens offenbart. Das Tragikomische ihrer Situation ist, daß Godot, daß Rettung, daß Antwort, so lange sie nicht produktiv handeln, nie kommen wird. Statt dessen kommt Pozzo.

Pozzo ist der absolute Herr und mahnendes Symbol für die gnadenlos verrinnende Zeit. Er tritt peitschenknallend auf mit Lucky, einem zum Knecht unterdrückten, psychisch deformierten Wissenschaftler. Noch hat er diese zerbrochene Kreatur fest am Halsstrick. Aber die Persönlichkeit Pozzos, des großspurigen Unternehmertyps, ist selbst im Zerfall begriffen. Er verliert ständig etwas, mal aus seinem Gedächtnis, dann aus seiner Anzugtasche. Wenn er im zweiten Akt noch einmal auftritt, ist er gealtert, erblindet, heruntergekommen. Das Ausbeutungsverhältnis löst sich auf — Sinnbild wiederum für die eilende, an ausbeuterischen Machtverhältnissen und Abhängigkeiten zerstörerisch nagende Zeit.

Solche um Entschlüsselungen bemühte Näherung an das Stück engt dessen Rezeption selbstverständlich auch ein. Becketts Phantasiespiel läßt sich wie jedes Kunstwerk nicht endgültig markieren. Aber durch seine Lebensweisheit und Assoziationsfülle wirkt es auch über seine Entstehungszeit und sein konkretes gesellschaftliches Umfeld hinaus.

Wobei uns heute nicht das existentialistisch Abstruse interessiert, sondern der dem Beckett widerfahrende Realismus. In Dresden am Staatsschauspiel hatte Wolfgang Engel sich 1987 zur DDR-Erstaufführung eine Zirkusarena auf die Bühne bauen lassen und die Narren sehr jung besetzt. Damit bekamen Angst und Zuversicht der beiden Landstreicher nicht nur deftige clowneske Züge, auch allerhand jugendliche Unbekümmertheit. Es schien, als warteten zwei in Arbeitslosigkeit Gestoßene geduldig und ergeben auf einen Boß, der ihnen möglicherweise einen Job verschaffen könnte.

Siegfried Höchst sucht nicht das Clowneske, auch geht er weniger auf Distanz. Er überspielt zunächst wie Engel das Fatalistische des Warte-Mysteriums und erlöst den Autor aus dem Klischee bürgerlicher Aneignungsweise, einem Klischee, das Irrationales hegt. Seine Figuren sind differenziert realitätsbezogen und zugleich die einer komödischen Kunstwelt. Pozzo und Lucky haben das Format von kabarettistisch-skurrilen Phantomen, Estragon und Wladimir hingegen haben eine naiv-fidele Diesseitigkeit, die sie fast zu „Lebenskünstlern" macht.

Nun hat Höchst wirklich glänzend besetzt. Günter Junghans gibt den Wladimir als fröhlichen Luftikus mit einem wachen, listigen Interesse für die Dinge des Daseins. Da blitzen die Äuglein, da spitzt sich der Mund. Dieser Wladimir ist ein Meister im schwadronierenden Nichtstun.

Der freundlich-kauzige, ewig müde Estragon Jürgen Rotherts nimmt das Leben bitter. Er ist abgeplagt und genervt, sein Hadern hat nörgelnde Ungeduld, auch Verzweiflung. Und doch ist dieser schrullige Narr zäh wie ein Stehaufmännchen. Sein „Ich kann nicht mehr so weitermachen!" verkündet keine Selbstaufgabe, sondern ist ein zartes Moment der Hoffnung wie die drei grünen Blätter am zuvor kahlen Baum im zweiten Akt. Der Pozzo Dietmar Huhns hat protzige Selbstgefälligkeit und kalte Brutalität, Horst Westphals Lucky tapfere Würde trotz ärgster Demütigung.

Wie die Regie das „Aufeinanderangewiesensein" der beiden Vagabunden erzählt, verständnisvoll, emotional engagiert, deckt das einen tief verborgenen Humanismus auf. Allerdings hätte die naive, im Grunde lebensgefährliche Tatenlosigkeit der Gesellen stärker verfremdende — zumindest ironisierende — Kritik nötig. Auch sollte ihre existentielle Not schaubarer ins Spiel gebracht werden. Und wahrscheinlich hätte ihr anfänglicher Argwohn gegenüber Pozzo und ihr schließliches Willfahren wertender Akzente bedurft.

Der so gar nicht ästhetisierende Zuschnitt der Inszenierung, ihr klarer, präziser Ton und ihre verhaltene Dynamik machten die Aufführung zu einem des Nachdenkens werten Spielzeitauftakt im Großen Haus der Volksbühne.

 

 

Neues Deutschland, 16. September 1988